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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 19. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Ein kurzes Stillschweigen trat ein. Elisabeth blickte eine Weile nachdenklich zu Boden, dann sagte sie:

„Sind Sie so sicher, daß der Ausdruck ,Handlungsweise’ der richtige ist? Ist es nicht möglich, daß bei Ihrem Gegner kein böses Handeln statt fand? Vielleicht besaß er die Urkunde nicht, deren Unterschlagung Sie ihm schuld geben! Ich habe gehört, daß in Processen oft die eine Partei es wie eine fixe Idee festhalte, die andere besitze eine Urkunde, die das Recht klarstelle, wenn sie das Document nur herausgeben wolle!“

„Also auch in Processen sind Sie erfahren, Fräulein?“ sagte mit etwas satirischem Ton Markholm. „Sie sind eine kleine Allwissenheit. Hier aber ist es nicht so. Es ist durchaus keine fixe Idee von mir, daß sich in dem Archiv auf Haus Markholm die alte Lehnsurkunde finden muß, worin es bestimmt ist, daß die Güter an die jüngere Linie fallen sollen, wenn der letzte Vasall der älteren nur Töchter hat. Der jetzige Besitzer von Markholm, dieser Herr von Morgenfeld, hat also kein Recht, obwohl er der Gatte der einzigen Tochter des letzten Vasallen aus der älteren Linie ist. So lange der Mannesstamm blüht, kann keine Tochter erben – um sich im Besitz zu erhalten, hat er die Urkunde unterschlagen, vor Gericht wenigstens eidlich deren Vorhandensein abgeleugnet: und damit bin nicht ich allein um mein Erbe betrogen, es sind die Güter meiner Vorfahren in fremde Hände gebracht, der Name meiner Familie wird dem Erlöschen anheimfallen! Können Sie begreifen, daß mich das tief verstimmt oder besser mit Bitterkeit erfüllt?“

„Nur zu sehr! Aber Herr von Morgenfeld ist ein allgemein geachteter Charakter, ein Mann. den man einer so gründlich unehrenhaften Handlungsweise nicht für fähig halten darf – man hat früher so oft alte Urkunden mit großer Verachtung als völlig werthlose Dinge betrachtet, als unnützen Plunder verworfen … ist es denn nicht möglich, daß die, um welche es sich handelt, wirklich nicht mehr vorhanden war? Das Schicksal hat Sie in die Nähe des Herrn von Morgenfeld geführt: thäten Sie nicht wohl, sich ihm persönlich zu nähern, ihn kennen zu lernen, um sich zu überzeugen, ob Sie es mit einem Manne zu thun haben, der ein Meineidiger, ein Betrüger sein kann? Vielleicht werden Sie den Glauben gewinnen, daß es ihm redlich darum zu thun gewesen, die Urkunde herbeizuschaffen, aber daß er es nicht vermochte.“

„Sie nehmen sehr eifrig die Partei meines Herrn Vetters,“ sagte Markholm. „Nun, es ist ja natürlich – Ihr Vater steht als Pfarrer zu ihm, seinem Patronatsherrn, in freundlichen Beziehungen.“

„Mein Vater?“ fiel Elisabeth aufblickend ein – aber sie schwieg wieder und sah in Markholm’s Züge, als ob sie verwundert und überrascht sei – gewiß von der tiefen zornigen Bitterkeit, womit er fortfuhr: „Mich aber werden vier Pferde nicht dazu bewegen, jemals die Schwelle dieses Mannes zu betreten, den ich hasse mit Allem, was zu ihm gehört!“

Elisabeth hielt noch immer ihre großen prüfenden Augen auf ihn geheftet, dann sagte sie mit einem leisen Seufzer zu Boden blickend: „Es ist am Ende natürlich! Aber öffnen Sie mir jetzt Ihren Schlagbaum da, das heißt, wenn Sie mir erlauben wollen, meinen Weg über Ihren Grund und Boden fortzusetzen – er ist kürzer für mich.“

Markholm öffnete rasch den Schlagbaum, indem er lächelnd sagte:

„Nur, wenn Sie mir verstatten wollen, Ihnen sicheres Geleit auf meinem Grund und Boden zu geben!“

„Auf Ihrem Gebiet sind Sie der Herr!“ entgegnete Elisabeth und trat, nachdem sie ihre Steine genommen, den Weg durch die kleine Allee an.

Markholm schritt neben ihr her. Er brachte das Gespräch auf andere Gegenstände, aber Elisabeth war einsylbig geworden – sie ging nicht darauf ein. Sie schritt rasch einher. Als der Garten erreicht war und Beide durch den mittleren Pfad auf die offenstehende Glasthür, die in Markholm’s Haus führte, zugingen, sagte er:

„Wenn Sie den kürzesten Weg nehmen wollen, so dürfen Sie nicht um mein Haus herumgeben, sondern müssen sich von mir hindurch führen lassen. Darf ich es? Es würde mir eine große Freude sein … eine große, wenn Sie es betreten!“

Elisabeth sah ihm mit einem freundlichen Lächeln in’s Gesicht, aber sie antwortete nicht. Als sie am Hause angekommen, schritt sie ohne Weiteres über die Stufen vor der Glasthür und trat hinein. Sie sah sich in dem Salon um, überflog die Bilder an der Wand und trat einer unter dem Spiegel hängenden Photographie näher, die sie aufmerksam betrachtete. Es war ein Portrait von Max.

„Das Original kennen Sie!“ bemerkte Markholm.

Elisabeth nickte.

Markholm schien unruhig darüber zu werden, daß sie es so aufmerksam betrachtete.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_289.jpg&oldid=- (Version vom 25.11.2022)