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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Der Weg ist verstellt!“ rief der Bube, welcher sich zur Vorsicht etwas seitwärts auf eine Anhöhe postirt hatte, herüber. „Wir müssen uns nach rechts halten, von dort drüben kommen Soldaten aus dem Walde hervor … Es ist klar, die Bauern haben sie geholt!“

„Die kommen gerade recht!“ rief Hiesel. „Ich bin just aufgelegt, mich mit ihnen herumzuschlagen! B’hüt Euch Gott, Ihr Bauern, macht Eure Schand’ nur voll, schlagt Euch ganz zu meinen Feinden, und wenn ich mit ihnen im Gefechte bin, dann packt mich zum Dank auch im Rücken an! Wenn der Hiesel einmal nimmer ist, wird eine Zeit kommen, wo Ihr ihn gern wieder aus dem Grabe herauskratzen möchtet – aber er wird nicht zum zweiten Male kommen!“

Die Bauern steckten die Köpfe zusammen und zogen sich zurück. Die Wildschützen bildeten eine lange Kette, welche für den anrückenden Feind möglichst wenige Zielpunkte darbot, und gewannen rasch eine Anhöhe hinter dem Dorfe. Mit dem gewandten Auge eines Feldherrn hatte Hiesel den Platz überblickt und schnell seine Aufstellung so genommen, daß er unangreifbar, oder doch ein erfolgreicher Angriff mit den größten Schwierigkeiten verbunden war. Den Mittelpunkt von Hiesel’s Aufstellung bildete eine Kapelle auf einer kleinen Anhöhe, welche die ganze Gegend beherrschte. Am Hügelabhang wand sich ein kleines Bächlein hin, das trotz seiner Unscheinbarkeit doch hingereicht hatte, den ganzen Boden umher zu versumpfen, so daß er unwegsam war und nur ein einziger schmaler Pfad über ein Brückchen an den Fuß des Hügels führte. Die Schützen feuerten den vorrückenden Soldaten über die Köpfe, um sie zu erschrecken und von weiterem Vordringen abzuhalten; diese aber, von einem jungen muthigen Officier geführt, drangen demungeachtet unaufhaltsam vorwärts; schon hatten zwei Musketiere in raschem Laufe fast gleichzeitig den Bach erreicht.

„Nun denn,“ rief Hiesel, „wenn sie nicht daran glauben wollen, so schießt scharf und faßt Euern Mann!“

Zwei Schüsse knallten; der eine Musketier taumelte leicht verwundet vor der Brücke in den Sumpf, der andere, welcher den Steg schon hinter sich hatte, stürzte, offenbar tödtlich getroffen, in schwerem Fall am Fuße des Hügels nieder. Die Soldaten wichen zurück, der Officier überschaute das Terrain und mochte wohl erkennen, daß er bei weiterm Vordringen seine Leute nur unnützer Weise dem nicht fehlenden Feuer der Wildschützen bloßstellen würde; er eröffnete ein wirkungsloses Plänkeln gegen die durch ihre Lage wohl Geschützten und zog sich während desselben langsam nach dem Dorfe zurück.

Es war inzwischen völlig dunkel geworden. „Seht, wie Ihr Euch die Nacht über einrichtet,“ sagte Hiesel zu seinen Leuten; „macht Feuer an, daß sie sehen, wie wir uns vor ihnen nicht fürchten! Stellt Posten aus nach allen Seiten; ich selber will da bei der Kapelle bleiben, und beobachten, was vom Dorfe herkommt.“

Der Bube hatte sich zu ihm gesellt. „Mir ist’s vorgekommen,“ sagte er, „als wenn der Musketier, der da drunten liegt, der nämliche wär’, den ich mit dem Studele hab’ reden sehen. Ich muß doch nachschauen, ob ich recht gesehen hab’.“ Sich niederduckend und mit unhörbaren Tritten schlich er den Abhang zu dem Todten hinab. Von drüben aber hatte eine Abtheilung Soldaten das vollständige Dunkel ebenfalls zu benützen gedacht und war herangekommen, um den Gefallenen mit sich zu nehmen. Schon waren sie nahe bei demselben, als sie den Buben gewahr wurden und unbemerkt sich hinter die Büsche der Umgebung verbargen.

Der Bube kam vorsichtig herangeschlichen und beugte sich über den Liegenden, der kein Lebenszeichen mehr von sich gab; eben wollte er demselben den Kopf umwenden, um das Gesicht zu sehen, als die Musketiere hervorsprangen. Im Augenblick war der arglose und schwächere Knabe von der Mehrzahl überwältigt, gebunden und geknebelt – nur einen einzigen kurzen Schrei der Wuth und Ueberraschung war er noch auszustoßen vermögend.

Hiesel vernahm den Ruf; er erkannte die Stimme. Wie ein angeschossener Eber stürzte er den Hügel hinab, Tiras mit ihm, und folgte, von dem Hunde geführt, der Spur der Soldaten, um wo möglich den Liebling ihren Händen wieder zu entreißen und aus der Gefangenschaft zu befreien. Lange durchstrich er Felder und Aecker und wagte sich im Dunkel sogar bis an die äußersten Häuser des Dorfes; es war vergeblich, die Räuber mußten sich mit ihrer Beute unmittelbar in’s Dorf zurückgezogen und den Gefangenen getragen haben, denn Tiras sogar verlor die Spur und schnoberte unsicher in den Stoppeln umher. Hiesel blieb nichts andres übrig, als schmerzliche Wuth im Herzen unverrichteter Dinge umzukehren – noch war es nicht der letzte Verlust, den diese Nacht ihm bringen sollte!

Als er wieder bei der Kapelle eingetroffen, fiel ihm erst auf, daß sich Tiras nicht, wie sonst immer, zu seinen Füßen lagerte. Er pfiff und rief nach allen Winden; er bot die Genossen auf und wagte sich noch einmal, nach allen Seiten spähend und rufend, in das Dunkel: es war umsonst, der bis dahin so unzertrennliche Gefährte hatte seinen Herrn verlassen und war und blieb verschwunden.

Erschüttert sank Hiesel, als er endlich von dem fruchtlosen Suchen wiederkehrte, auf der Schwelle der Kapelle nieder und die Ahnung, daß es mit ihm zu Ende gehe, stieg wieder, dunkler und drohender als je, in seinem Gemüthe auf. „Es muß doch so sein!“ murmelte er vor sich hin, „wenn ich’s auch nicht glauben will, ich muß doch sein, was sie mich nennen … ein Räuber und Räuberhauptmann! Würde sonst Alles so von mir lassen und mich fliehen? … die Kundel kommt wohl absichtlich nicht mehr zurück, sie wird sich und mir den Abschied haben ersparen wollen … der ehrliche Studele hat mich verlassen … meinen treuen Buben haben sie gefangen und fortgeschleppt … der Tiras ist erschossen oder versprengt oder untreu … die Bauern, die mich einmal auf den Händen getragen haben, wollen nichts mehr wissen von dem Räuberhauptmann … es ist hohe Zeit, daß ein Ende hergeht …“

Aus diesen Gedanken weckte ihn ein leiser wimmernder Ton, der durch die Nacht über den Hügel und von der Brücke her emporstieg; der verwundete Soldat schien zum Leben zurückgekehrt zu sein.

Vorsichtig schlich Hiesel zu ihm hinunter; der Mann hatte die Augen aufgeschlagen, blickte wirr um sich, und ein schwerer Seufzer stieg aus der Brust, in welche die Kugel gedrungen war.

„Wie geht’s, Freund?“ sagte Hiesel, „kann ich Dir was helfen?“

„Nein!“ antwortete der Soldat in schmerzlichen Absätzen, „aber ich habe so heiß … es brennt mich so arg in der Brust … und die Zunge ist wie vertrocknet … Wenn ich nur einen frischen Trunk haben könnte …“

Hiesel bückte sich zu dem Bache nieder, schöpfte mit dem Hut und brachte ihn dem Sterbenden, der mit Behagen die letzte Labung schlürfte.

„Hast sonst keinen Wunsch mehr?“ fragte Hiesel wieder.

„Nein!“ war die Antwort. „Ich bin ein einzelner Mensch, der Niemand und Nichts hat auf der Welt und leicht weggeht in den Himmel … Ich möchte nur, daß Jemand da wär’, der mir vorbeten thät … in meiner Sterbestunde …“

„Das will ich wohl thun, so gut ich es noch kann …“ sagte Hiesel ergriffen.

„Wer bist Du denn? Ich kann Dich nimmer sehen, aber der Stimme nach bist Du nicht von der Compagnie?“

„Frag’ nicht, wer ich bin! Ich weiß es selber nicht und will’s nicht wissen … ein elender Mensch bin ich, der sich lieber neben Dich hinlegen und einen ehrlichen Tod sterben möcht’ wie Du … mir wird’s wohl nit so gut werden … aber ich will Dir vorbeten.“

Er begann das Vaterunser zu sprechen.

Der Soldat lag schon im Todeskampf; bei der fünften Bitte verstummte sein Röcheln.

Hiesel aber sprach mit gefalteten Händen für sich: „Und vergieb uns unsere Schulden!“

Der Morgennebel umhüllte schon die grau verdämmernde Gegend, als er sich erhob und dem Walde zuschritt. Verspätete Schwalben kamen vom Dorfe her und schwirrten über ihm hin … er öffnete den herb geschlossenen Mund nicht mehr zum Gesange, aber inwendig klang ihm die Weise und der Schluß des Liedes an, das er noch vor wenig Stunden gehört …

Wenn die Schwalben wieder kemma
Auf ein ander’s Jahr,
Ist’s wohl aus mit allem Gräma,
… Jetzund geht’s an’s Abschied-Nehma,
Die schö’ Zeit ist gar!“


(Fortsetzung folgt.)



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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