Seite:Die Gartenlaube (1865) 459.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

1. Der physische Grund der Hypochondrie.

Nur in einem ganz gesunden Körper kann ein ganz gesunder Geist wohnen, und da die Gemüthsstimmung eine Wirkung des Geistes ist, so muß diese natürlich auch durch den Zustand des Körpers bedingt sein. Aeußerst selten gewiß sind die Fälle, daß Menschen sich bei dem schmerzhaftesten Körperzustande gleichwohl ihr heiteres Gemüth bewahren. Nicht Jeder hat die starke Willenskraft, sein körperliches Uebel, wie es Hufeland als Mittel gegen Hypochondrie angiebt, zu objectiviren, es von seinem wahren Ich zu trennen und zum Gegenstand der Außenwelt zu machen. Wie Körper und Geist wunderbar mit einander verknüpft sind, so ist auch der gegenseitige Einfluß beider nicht völlig und nicht leicht aufzuheben, und bei der großen Mehrzahl der Menschen wird daher immer mit einem körperlichen Leiden zugleich eine geistige oder gemüthliche Verstimmung, ein größerer oder geringerer Grad von Schwermuth verbunden sein.

Dieser Art von Schwermuth sind alle Menschen unterworfen, wie alle den Krankheiten unterworfen sind. Es ist nicht der leibliche Schmerz allein, der da die geistige Verstimmung erzeugt, sondern in Verbindung mit demselben die inneren Betrachtungen, die ein gestörter Gesundheitszustand erweckt. Der Eine fürchtet ein langwieriges Krankenlager, oder wähnt, sein Zustand sei lebensgefährlich: der Andere überrechnet die Kosten, womit seine Wiederherstellung verknüpft ist, und den Nachtheil, den er bis dahin außerdem noch in seinem Berufe davon hat. Ein Dritter bedauert ungeduldig die Vergnügungen und Genüsse, auf die er verzichten muß, und einen Vierten peinigt die Unthätigkeit, wozu er durch seinen Zustand verurtheilt ist. Kurz, bei Allen gesellt sich zu dem physischen Uebel zugleich ein Gemüthsleiden, welches als Wirkung jedoch mit der Ursache weicht, so daß wir auf diese Quelle der Schwermuth nur später noch einmal vorübergehend zurückzukommen brauchen.

Eine schlimmere Quelle der Schwermuth als wirkliche Krankheit scheint, bei sonst leidlicher Gesundheit, ein krankhafter Zustand des Blutes oder des Unterleibes zu sein. Ist neben dem Nervensystem das Blut auch das thierische Leben, so ist doch nur das nach Maß und Beschaffenheit natürliche Blut das wahre heitere Leben.

Wie man durch gefärbte Augengläser alle Gegenstände in anderer, als ihrer wirklichen Farbe sieht, so erscheinen dem Menschen auch bei dickem Blute die eigenen Verhältnisse und Erlebnisse anders, und zwar immer trüber, ernster und trauriger, als sie in der Wirklichkeit sind und bei gesundem Blute erscheinen würden. Der erschwerte Lauf des Lebensstoffes, sofern er dick und schlammig,[1] und die übermäßig starke Strömung desselben nach dem Gehirn, sofern er bis zum Austreten angeschwollen ist, erzeugen denjenigen Gemüthszustand, welcher die eigentliche Hypochondrie ausmacht. Der ganze geistige und gemüthliche Gesichtskreis bei einem Blute von solcher Beschaffenheit gleicht einer Gegend, die, mit Ausnahme der Unterbrechungen, welche das starke Mittagslicht bewirkt, stets in dickem Nebel ruht. Wessen Blut dergestalt beschaffen ist, der sieht in der unbedeutendsten Krankheit, die ihn befällt, gleich die Parze nahen, welche seinen Lebensfaden abschneiden will, fürchtet bei andauernder Nässe oder Trockenheit alsbald Hungersnoth, erkennt in jedem neuen Concurrenten sofort den Untergang seines Gewerbes, lebt niemals in zuversichtlicher Hoffnung, ahnt und fürchtet aber stets bevorstehenden Schaden und Unglück.

Und wie das Blut das Leben genannt wird, so hat man treffend den Magen mit einem Regenten verglichen: Magen und Blut wenigstens theilen sich in die Regierung des ganzen Menschen. Ein gesunder Unterleib offenbart sich nicht blos thierisch heilsam, so daß der Körper gedeiht, nein, sein Wirkungskreis erstreckt sich bis zum Lebens-Aequator, dem Herzen, und äußert sich in einem gesunden Fühlen und Empfinden, ja bis zum äußersten Lebenspol, dem Gehirn, und bekundet sein Dasein durch ein gesundes Denken und Urtheilen. Und ein schwacher Unterleib sollte nicht eine physische Quelle der Schwermuth sein? Wie ganz anders fühlt sich selbst der völlig gesunde Mensch, bevor nach der Mahlzeit das Verdauungsgeschäft vollendet ist, als in den Morgenstunden, wenn der Leib noch nicht von Speisen belästigt war! Wie ganz anders ist da seine Stimmung, wie ganz anders sieht er da die Dinge an, wie ganz anders zeigt er sich da im Umgang und Verhalten, nicht blos gegen seine Umgebung, sondern selbst gegen Fremde! Bei dem Unterleibsschwachen tritt dieser Unterschied noch sichtbarer hervor. Die Mittagsmahlzeit, wenn sie nicht höchst mäßig gewesen und aus den leichtesten Speisen bestanden hat, macht ihn oft für den ganzen Nachmittag zu jeder Arbeit unfähig, beraubt ihn mindestens aller Lust zu derselben. Der Leib ist zu aufgebläht, der Kopf, vom Magen aus, zu sehr umdunstet, als daß ein solcher Mensch sich körperlich oder geistig leicht bewegen könnte. Die Augen können dem Schlummer nicht widerstehen, der Mittagsschlaf erschwert die Verdauung und vermehrt die Verstimmung. Die Abendmahlzeit hat keine günstigern Folgen. Wenn der Unterleibsschwache sich nicht die größten Entsagungen auflegt und die vorsichtigste Mäßigkeit beobachtet, so muß er durch Schlaflosigkeit seinen Genuß büßen, oder sein Schlaf ist um so unterbrochener und durch schwere, lebhafte Träume so gestört, daß er weder erquickt, noch stärkt und oft für den ganzen nachfolgenden Vormittag eine Erschlaffung und Verstimmung zurückläßt. Wer dergestalt leidet, ist mit seinem Geschick, mit seinem Beruf, mit seiner Umgebung, mit sich selbst und seinem Thun unzufrieden, schreibt seinen Trübsinn aber selten der natürlichen Ursache zu, läßt sie kaum für eine Mitursache gelten oder vergißt dies eben so oft, wie er von Andern darauf geführt wird, würde sein Leiden aber unter allen Verhältnissen äußeren Dingen beimessen, die mindestens nicht die einzige oder Hauptquelle wären.

2. Der psychische Grund der Hypochondrie.

Wäre der Mensch ganz Thier, so würde bei ihm mit einem gesunden Körper stets auch ein gesunder, heiterer Sinn verbunden sein.[2] Er ist aber nur zur Hälfte Thier, er ist durch seinen Geist ein höheres Wesen, und sein innerer Zustand ist daher das Abstimmungs-Resultat zweier Kammern: eines Hauses der Gemeinen, wo die Körpertheile, und eines Oberhauses, wo Herz und Geist und menschengesellschaftliche Verhältnisse Sitz und Stimme haben.

Als willensfreiem Wesen ist es dem Menschen unbenommen, seine Leidenschaft, wenn auch zum Unglücke Anderer, zu befriedigen, seinen Begierden wenn auch auf Kosten seiner Mitmenschen, zu fröhnen. Sein innerer Frieden geht aber mit diesem Mißbrauch der Willensfreiheit verloren: eine Schwermuth, die sich durch geräuschvolle Lust momentan wohl überschreien, durch kein irdisches Mittel aber für immer wegschaffen läßt, macht sich in vollem Maße für den beleidigten Geist bezahlt. Kein Verbrecher, kein Sünder gegen diejenigen Moralgesetze, welche von der gesunden Vernunft eines jeden Menschen anerkannt werden, er stehe noch so hoch, er genieße des vollkommensten körperlichen Wohlseins, er lebe in den erwünschtesten äußern Verhältnissen, erfreut sich des beseligenden Gemüthszustandes, welcher von der Unschuld unzertrennlich ist. Das strafende Gewissen sucht ihn, wie absichtlich er sich auch verstecken mag, mit Schwermuth heim, wenn nicht immer, doch oft, wenn nicht sichtbar vor aller Welt, doch in Stunden der Zurückgezogenheit und auf nächtlichem Lager, je mehr durch Verstellungskunst vom Aeußern fern gehalten, desto tobender und peinigender im Innern.

Man täuscht sich indeß, wenn man glaubt, daß nur schwere Vergehungen und zwar nur solche gegen die Mitmenschen eine Quelle der Schwermuth werden könnten. Je größer der Bildungsgrad bei einem Menschen ist, desto kleiner braucht die Sündenlast bei ihm zu sein, um dieselbe traurige Wirkung zurückzulassen, wie bei dem geistig Rohen oder dem sittlich Entarteten solche Thaten, vor denen das menschliche Gefühl erbebt. Eine wissentliche kleine Unrechtlichkeit aus Gewinnsucht, eine Verletzung der Wahrheit durch den Drang unvorhergesehener Umstände, eine Ehrenkränkung aus Unbesonnenheit oder Uebermuth, auch solche und ähnliche Vergehungen haben für den zarter fühlenden und gebildeten Menschen, wenn auch nicht wirklichen dauernden Trübsinn, doch eine kleinere Schwester desselben – Mißstimmung zur Folge.

Und nicht blos äußert sich solche Verstimmung bei Vergehungen gegen die Mitmenschen, sondern auch bei Pflichtversäumnissen gegen

  1. Was Verfasser von dem dicken schlammigen Blute als physischem Grund der Hypochondrie sagt, dürfte auf ein Blut zu beziehen sein, das innerbalb der Pfortader nicht flott genug durch die Leber floß, also nicht gehörig gereinigt wurde, sich an den Verdauungsorganen staute und schließlich durch die Hämorrhoidaladern in den gesunden Blutstrom (also auch in das Gehirn) gelangte. Ausführlicheres hierüber findet sich Gartenlaube Jahrg. 1854, Nr. 18 und 1857, Nr. 19.
    Bock.
  2. Der Verfasser irrt, wenn er meint, daß nicht auch Thiere bei ihren geistigen und gemüthlichen Eigenschaften hypochondrisch sein könnten.
    Bock.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_459.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)