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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

aber ziemlich engherzig, oft von beengtem Gesichtskreis, aufgeweckten, fröhlichen Humors, politisch in eidgenössischen Fragen sehr liberal, in innern Cantonal- und Gemeindedingen dagegen stark bezopft, gern mit der Ahnen Großthaten prunkend, aber auch von grosser Heimathsliebe, vielredend, phrasenliebend, dem äußern Scheine zugethan, dabei gemeinnützig, höchst haushälterisch, streng Ordnung haltend, für religiöse und politische Interessen leicht entzündlich und reizbar, sonst verständig, vorsichtig, berechnend. Neben einer bestimmten, strengprotestantischen Kirchlichkeit läuft zwar allerlei Sectenwesen, neben einer gewissen Aufklärung allerlei Aberglauben (Schatzgräberei etc.), neben einer gewissen Bildung mancherlei Rohheit, Trotz und Gewaltthätigkeit her; was aber die Secten betrifft, so müssen sich diese eine so intolerante Behandlung gefallen lassen, wie sonst nirgends in der protestantischen Schweiz.

Auf der Nordseite des Säntisstockes, tiefer in diesen hineingedrängt als die andern Völklein, am Ursprung und im ersten Plateau der Sitter, wohnt die vierte Familie, die katholischen Appenzell-Innenrhoder, gleichen Ursprungs mit den Außerrhodern und doch himmelweit von ihnen verschieden. Sie haben fast nichts mit einander gemein, als die naive, mutterwitzige Art sich auszudrücken, den heitern Humor und die Vorliebe für den Gesang. Allein während die Außerrhoder mit besonderem Eifer und Glück auch den Kunstgesang pflegen, begnügen sich die Innerrhoder mit ihrem Jodel und dem Volkslied.

Im Gegensatze zu jenen sind diese ein einfaches, armes, schlichtes Hirtenvölklein geblieben wie selten anderswo. Nur Wenige sind im Besitze einer höhern Bildung; aber überall findet sich heller Verstand und oft überraschende Fassungskraft. Autodidakten von bedeutendem Talente sind nicht selten, zeigen aber kaum ein Bedürfniß, sich mit der großen Welt in Verkehr zu setzen. Wie die meisten Bergvölker sind sie neugierig, aufs Erzählenhören erpicht, aufgeräumt, genügsam, aber auch wieder genußsüchtig und trotz der gewöhnlichen Sparsamkeit in gewissen liederlichen Zeiten verschwenderisch. Sie sind sehr friedfertig und zutraulich; aber einmal mißtrauisch gemacht, bleiben sie es nachhaltig. Gewohnter, nicht allzu harter Arbeit zugethan, sind sie daneben bequem und behaglich. Nicht gerade gemeinnützig, erweisen sie sich doch in der Nähe herum wohlthätig und gutherzig. Im Haus und Kleid (mit Ausnahme der Sennen) reinlich, nehmen sie es im Stall und am eigenen Körper weniger genau. Nach fremden Schilderungen lüstern, halten sie nur um so zäher an den eigenen alten Gewohnheiten. In kirchlich-religiösen Dingen höchst tolerant, wahren sie doch die Observanz der katholischen Kirche nach allen Seiten und sind zu volksthümlichem Aberglauben jeder Art geneigt. Respectvoll gegen die selbstgewählte „hohe Obrigkeit“, beweisen sie doch stets ein volles Bewußtsein republikanischer Unabhängigkeit, zumal an Landsgemeinden und Markttagen. Dabei treiben sie wenig Politik; zufrieden an ihrem Heerde, beschränken sie sich auf das eigene Glück und Leid, von der übrigen Schweiz, ja von der ganzen Welt nichts verlangend, als daß man sie in Ruhe lasse, ihre Stickereien kaufe und im Sommer ihre Ziegenmolke trinke.

Ein Völkchen, das in Beschäftigung und Besitz so gleichartig ist, in dem es in Vermögen und Bildung keine allzugroßen Abstufungen und Unterschiede giebt, konnte sich in dieser allgemeinen Gleichartigkeit des Charakters lange Zeit behaupten. Selbst die wenigen Reichen und Gebildeten wirkten bisher um so weniger modificirend ein, als sie weder ihren Besitz anders als in der bequemsten Weise benutzen, noch mit ihren Kenntnissen etwa auf Besserung der staatlichen und geselligen Zustände besonders einwirken. Sie benutzen großentheils das Privilegium des Nichtarbeitenmüssens in des Wortes verwegenster Bedeutung und das des Zechendürfens oft mit einer Ausdauer, die einer bessern Sache würdig wäre, denken weder an industrielle Unternehmungen noch an gemeinnützige Schöpfungen, sind zufrieden mit dem urväterlichen Hause, dem angestammten Rathsherrenstuhl und dem Ehrenplatze am Wirthstisch, bleiben im Lande und nähren sich redlich. Auch die Geistlichkeit theilt fast durchweg das allgemeine anmuthige Behagen.

So branden die Strömungen der Zeit kraftlos an des Hochländchens Grenzen. Das Gerathen der Futterernte in „Grund und Grath“, der Gang der Viehpreise berührt sie lebhafter, als alle Krisen des politischen und geselligen Lebens. Luxus ist nicht vorhanden. Die braunen, über alle Hügel gesäten Holzhäuschen mit ihren nach Mittag gekehrten Fensterreihen und niedrigen Stuben, deren beträchtlichsten Theil oft der wohlgegründete, nur in wenigen Sommerwochen erkaltende Ofen einnimmt, sind noch eingerichtet wie vor Jahrhunderten, und Käse, Schotte, Kaffee, Butter sind die Hauptnahrungsmittel geblieben wie ehedem. Auf die Volkstracht dagegen, die mehr bunt, als geschmackvoll ist, und bei der weiblichen Bevölkerung in einem kurzen, reichgefältelten braunen Rocke, farbiger Schürze, buntem Mieder, Silberketten und kleinem Käppchen mit rothem Boden und Band besteht, hat die französische Mode, die selbst noch mächtiger ist, als die französischen Ideen, einigermaßen eingewirkt. Nur die Frauen und Sennen halten die Landestracht noch aufrecht. Die Spiele und Feste des Volkes, seine Lieder, Sprache und Sitten haben sich im Laufe der Jahrhunderte kaum merklich geändert. Leider gilt dies aber auch noch theilweise vom Schul- und Armenwesen und dem ganzen Gange des Staatslebens, in das freilich die jüngste Entwickelung des Schweizerbundes manche Keime gelegt hat, die allmählich zur Umgestaltung der patriarchalischen Zustände führen müssen.

So dünn und genügsam auch die kaum zwölftausend Köpfe starke Bevölkerung Innerrhodens ist, so vermöchte sie doch aus Viehzucht und Alpwirthschaft nicht ihre Existenz zu fristen. Sie griff daher schon vor Jahrhunderten zur Industrie, aber in einer von Außerrhoden ganz abweichenden Weise. Hier sind die Männer ihre Träger, in Innerrhoden sind die Weiber die Industriellen. An beiden Orten wird die Industrie hauptsächlich nicht in besondern Etablissements, sondern im eigenen Hause betrieben, in Außerrhoden im Keller mit dem Webstuhl, in Innerrhoden in der Stube mit dem Stickrahmen. Innerrhoden ist so recht eigentlich die Heimath der kunstvollen Handstickerei, und aus seinen armen Holzhütten gehen die kostbarsten und reizendsten Producte hervor, welche fern draußen die Fürstinnen und die Paläste schmücken, und welche in Paris und im Glashaus des Hydeparks die Bewunderung der Welt gewannen.

Betrachten wir die Organisation dieser Industrie, die gewissermaßen einzig in ihrer Art ist, etwas näher. Es ist gewiß bezeichnend für die Gemächlichkeit der Wohlhabendern und Gebildetern des Landes, daß sie die heimische Betriebsamkeit nicht zu leiten und zu benutzen wissen, sondern dies den Fremden überlassen. Die Handelshäuser St. Gallens und Außerrhodens sind die eigentlichen Träger der Stickereiindustrie. Sie veranlassen und verwerthen dieselbe. Mit der feinsten Aufmerksamkeit verfolgen sie den Gang der Mode und die Entwickelung des Geschmackes, um ihren Dessinateurs die nöthigen Winke zu geben. Diese sind in den betreffenden Häusern angestellt und hoch bezahlt; doch werden auch einzelne Dessins von Paris bezogen.

Die Zeichnungen gelten für Modewaaren, Frauen- und Kindertoilette und Bettlinge, als: Kragen, Taschentücher, Kleider, Hauben und Garnituren aller Art. Die hierzu verwendeten Stoffe sind sehr verschiedener Art und verschiedenen Ursprungs: feine Mousseline, in Außerrhoden fabricirt, Jacconats und Nanzone aus dem Toggenburg und Batiste aus den Fabriken Frankreichs und Belgiens. Dabei ist es merkwürdig, daß die oft versuchte Batistweberei in Außerrhoden nie gelingen wollte. Das gleiche Material, feines Leinengarn, auf den gleichen Stühlen (Métiers) in diesen Gegenden gewoben, ergab einen ganz andern Stoff und konnte die Weichheit und den eigenthümlichen Seidenglanz des französischen und belgischen Productes nie erreichen, als ob rauhere Luft und Wasser bei uns diesen zarten Geweben feindlich wären.

Die Dessins werden mittels einer einfachen Maschine auf ein eigens präparirtes Papier eingestochen („gestüpfelt“) und dann mit Zuhülfenahme einer Pulverfarbe auf den Stoff durchgerieben, auf dem dann die so übertragene Zeichnung durch Dampf oder glühendes Eisen fixirt wird.

Die rohe, aufgezeichnete Waare geht nun aus der Hand des Kaufhauses in die der angestellten Factoren („Ferker“) über. Dies sind innerrhodische Männer oder Frauen, welche die regelmäßigen Vermittler zwischen dem Handelshause und den Stickerinnen bilden. Sie empfangen allwöchentlich die genaueren Anweisungen über die Ausführung der Stickarbeit, vereinbaren sich mit dem Auftraggeber über den zu leistenden Preis, wählen sich dann in ihrem Kreise die passenden Arbeiterinnen aus und bestimmen diesen den Lohn, oft nicht ohne Willkür und Eigennutz, und geben ihnen das benöthigte Stickgarn ab.

Dort sitzen sie in ihren hundertjährigen Stuben auf der Bank, die sich längs der kaum unterbrochenen Fensterreihe hinzieht, zu

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_526.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)