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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Kutter ihn an’s Land setzte und er mit noch drei Andern, die des Todtschlags überführt waren, dem Aufseher zur Einkleidung übergeben wurde, sank ihm der Muth. Er bat, er flehte, ihm seine Kleidung, die er seither mit Ehren getragen, zu lassen – vergebens, er mußte den schwarz und gelben Kittel anziehen und Alles, was ihn noch an die Außenwelt fesselte, sein Ring, ein Medaillon mit dem Bilde der herzlosen Frau, das er an der Uhrkette trug, die Uhr selber – Alles mußte in sichere Obhut des Beamten gegeben werden und nur ein Empfangsschein ward ihm statt dessen in die Hand gedrückt – eine Anweisung zwölf Jahre dato.

Materiell hat der Gefangene auf Blackwell’s Island nichts zu leiden, seine Beköstigung ist gut und sauber und die ihm auferlegte Arbeit kann er leisten. Hier gilt selbst noch der Verbrecher als Mensch; seinen Freunden und Verwandten erlaubt man ihm von Zeit zu Zeit kleine Erfrischungen und dergleichen zu senden, und mitunter darf er auch, freilich unter strenger Aufsicht, in der Freistunde Besuch annehmen, obgleich nur eine fremde Person auf einmal die Insel betreten darf und Booten nicht gestattet ist, länger als zum Aussetzen ihrer Passagiere anzulegen, um jeden Fluchtversuch zu verhüten.

So vergingen für unsern Gibson zwei schwere Jahre in gleichmäßiger Apathie. Von seinen Freunden und Verwandten hörte er kein Wort, kein Lebenszeichen kam ihm von seinem Weib und seinem Kind, die für ewig von ihm getrennt schienen. Wie manche Stunde der Nacht, die er trotz des Tages Mühen schlaflos, unerquickt auf dem harten Lager zubrachte; wie manche Stunde der stillen Nacht, in der nichts als das eintönige Auf und Abschreiten der Schildwachen die Ruhe unterbrach, dachte er an sie, die ihn wohl ganz vergessen hatte, und seinen kleinen Knaben – das arme Kind, das seinen Vater, der zum Auswurf der menschlichen Gesellschaft gestempelt war, wohl nie wieder kennen würde, was sollte aus ihm werden! War er auch freiwillig in das Grab gestiegen, welches ihn lebendig umschloß, der Wunsch nach Freiheit, nach warmem Sonnenlicht des Lebens erwachte in ihm und das Verlangen danach niederzukämpfen schien ihm unmöglich. Bei der strengen Bewachung aber konnte er keinen Plan zu seiner Erlösung fassen. Woche um Woche, Monat um Monat verging, schon begann der dritte Sommer seiner Haft – trübsinnig sah er den Tag erstehen, traurig sah er der scheidenden Sonne nach, wann sie sich über dem Hudson drüben in’s Land seiner Geburt verzog, und es schien ihm Wahnwitz zu sein, von hier aus an ein Entkommen zu denken, wenn ihn nicht ein Engel durch die Lüfte tragen würde.

Und der Engel erschien dem hart geprüften Mann! Es war ein schöner Junitag gewesen und glühend heiß brannte gegen Abend die Sonne, als die Gefangenen zum Spaziergang in’s Freie durften. Das kleine Dampfboot, welches eine Ladung Proviant für das Gefängniß gebracht batte, verließ eben die Brücke; mit welcher Sehnsucht sah er es nach und nach verschwinden! Auch ein kleiner Postbeutel war wie gewöhnlich in die Wohnung des Aufsehers gebracht worden, und als Henry im Begriffe war nach abgelaufener Freistunde in’s Arbeitszimmer zurückzukehren, wurde sein Name gerufen. Einer der Wärter winkte ihm und reichte ihm einen vorher zur Controle geöffneten Brief. Wer konnte denn an ihn schreiben? – die Seinigen wußten unmöglich, was aus ihm geworden war. Und doch wußten sie es und hatten ihn nicht vergessen. Der Brief war von dem für herz- und treulos gehaltenen Weib seiner Liebe aus New-York adressirt und lautete:

„Theurer Henry! Seit sechs Wochen bin ich in das Hospital auf Staten Island als Krankenpflegerin eingetreten, um nach meinen Kräften dem Vaterland nützlich zu sein, und nur der Gedanke, wie es Dir ergehen möge, foltert meine Seele. Möge der Allmächtige Dir Kraft verleihen, die lange Zeit mit Geduld zu ertragen, wie auch ich es tragen muß. Ich habe die Erlaubniß erhalten, Dir heute einige Erfrischungen senden zu können, und darf solche jede Woche einmal dem Dampfboot mitgeben; ich hoffe, daß Dir der Fruchtkuchen munden wird. Kann ich die Bewilligung erhalten, selber zu Dir zu kommen, so werde ich zu meinem schweren Werke Kraft und für mein gequältes Herz Stärkung finden.

Auf ewig die Deine
Elisabeth Gibson.“

Henry’s Ueberraschung war grenzenlos, und so sehr ihm die Freude das Herz erzittern machte, konnte er doch ein Gefühl tiefen Schmerzes nicht unterdrücken, denn der Brief war ohne allen warmen Lebenshauch, vielleicht nur aus Pflichtgefühl geschrieben. Aber von New-York aus datirt – sie im Norden auf Staten Island in seiner Nähe – wie sollte er dies zusammenreimen? Um sieben Uhr war die Arbeitszeit vorüber und dann durfte er nach dem gesandten Paket fragen. O welche lange, bange Zeit! Und doch was sollte er daraus für Aufklärung erhalten, vielleicht war es nur das Zeitungsblatt, das er darum geschlagen vermuthen durfte, welches ihn anzog, es war ihm wie Frühlingshauch, wie Freiheitswehen, und unwiderstehlich blieben seine Gedanken dabei stehen, als ob er davon Rettung erlangen müsse.

Die Stunde kam endlich, und nach dem frugalen Mahl sah er das kleine Paket in seiner Hand. In zwei neue Tagesblätter eingeschlagen, geöffnet und revidirt wie der Brief, lag der Obstkuchen und einige Fleischstücke vor ihm. Mit bitterer Enttäuschung sah er die Eßwaaren in seiner Hand an und heiße Thränen, bittere Mannesthränen, rolllen auf die Gaben der Liebe herab. „Warum denn klagen?“ fragte er sich, „diese Sachen sind von der Hand der Liebe gesandt, vielleicht selbst zubereitet – was haben sie mit deiner Freiheit zu schaffen – was kann das arme Weib zu deinem Entkommen thun? Dennoch – sie wäre die Einzige, die von außen darauf hinarbeiten könnte!“

Er aß ein Stück von dem Fleisch – Liebe hatte es gewürzt, und trotz alles Wehes, trotz der Thränen, die ihn am Lesen der Blätter hinderten, es mundete ihm. Jetzt den Kuchen versucht – in eine entfernte Ecke gedrückt, um der Neugier und Bettelei roher Cameraden zu entgehen, durchbrach er denselben – was ist das? Eine Federspule lugt heraus – sie muß aus den Schwingen der Freiheitsgöttin sein, sonst könnte sie nicht darin stecken. Sie schnell mit den Zähnen zerreißend, fühlt er innen eine kleine Papierrolle und Kuchen und Zeitungen vergessend, die zu Boden fallen, liest er darauf:

„Morgen Abend fünf Uhr Freund auf Wache – wälze das Faß spielend zum Wasser; bleib’ zuletzt draußen und wirf Dich in jenem in den Fluß ohne Besorgniß, Freunde sind nah.“

Er verschlang jeden Buchstaben mit den Augen, aber trotz des ihn durchzuckenden Glückes verschwand der Götterbote der Errettung zwischen den Lippen, deren stürmischer Kuß bald der muthigen Frau den heißen Dank des Gatten bezeugen sollte.

Den Zusammenhang begriff er nicht, nur so viel verstand er, daß ein Freund auf Wache sein würde, der ihm Hülfe lieh. Wo war ein Faß, in das er steigen sollte? – der nächste Tag mußte Alles aufklären, und er beschloß sich von den Umständen leiten zu lassen. Viel zu langsam verging die Nacht, die er fast schlaflos verbrachte, und als gegen Morgen die Natur ihr Recht forderte und holde Bilder seine Phantasie umschwebten, schreckte ihn die rauhe Stimme des Wärters auf. Ruhig nahm er den Morgengruß hin, hoffte er doch, daß es der letzte sein würde. Nach der Morgenandacht ging’s ins Joch, und nie hatte er es so willig getragen wie heute, keiner schaffte so viel wie er. Endlich kam die Befreiungsstunde, allein noch hatte er von Niemandem auch nur ein Zeichen erhalten, nach welchem er seine Handlungen berechnen konnte. Er flog mehr, als er ging, nachdem die Freistunde angekündigt war, zur Halle hinaus – gleichgültig schritt die am Hause postirte Schildwache auf und ab.

Da entdeckte sein Auge drüben am Wasser keine fünfzig Schritt vor ihm ein Faß von beinahe vier Schuh Höhe – das mußte es sein, welches ihm zur Rettung dienen sollte. Er suchte einige der Mitgefangenen nach und nach dorthin zu ziehen und erfuhr von einem derselben, daß Schinken darin gepackt gewesen sei, den er habe hereintragen helfen. Niemand konnte etwas Verdächtiges darin finden, daß es ihm beim Hantiren umfiel und am Wasserrand liegen blieb, gerade so wie er es wünschte. Keiner gab sich die Mühe es aufzustellen, alle Andern gingen wieder fort. Sorgsam spähte er nach der gegenüberliegenden Küste des Festlandes – kein Zeichen entdeckte sein scharfes Auge. Als er sich unbeachtet glaubte, ließ er den Blick auf den Wachtposten fallen – der nickte mit dem Kopfe. O glücklicher Gedanke, dies mußte der Retter sein! Das Herz klopfte, als ob es vor Freude und Angst zerspringen wollte.

Die Freistunde ging ihrem Ende entgegen – das Signal zur Arbeit ertönte; er hatte sich weiter vom Gebäude entfernt als die Uebrigen und schritt so langsam wie möglich zurück. Er war

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 547. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_547.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)