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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Ach was, lassen Sie mich dem armen Geschöpf sein Leiden verkürzen! Hole der Satan eine so erbärmliche Skizze nach einer schmerzgequälten Creatur, der dadurch die Erlösung von ihren Schmerzen vorenthalten wird!“ murmelte ich ihm unwirsch entgegen und nahm die Buchse wieder auf, um Menschlichkeit zu üben, denn das Thier hatte jetzt, durch unser Geflüster aufmerksam geworden, eben den Kopf nach mir herübergewandt und sah mich mit einem Blick seines großen, schönen blauschimmernden Auges, aus dem Schmerz und Sanftmuth, Vorwurf und Bitte zugleich sprachen, so jammervoll an, daß ich mir dem duldsam sterbenden Thiere gegenüber wie ein ruchloser Bösewicht erschien. Dieses Gefühl steigerte sich in mir noch außerdem durch den Anblick des purpurnen Herzschweißes, der dem Anschuß in dicken Perlen entquoll und am „gebrochenen Edelweiß“ herniederrann, während bei jedem Athemstoß des sterbenden Geschöpfes hellrother Lungenschweiß aus Nase und Lippe entströmte. Das rührte aber meinen Waidmann Alles nicht, er nahm mir’s Gewehr von der Schulter und drang darauf, daß ich zeichnete. Laut bittend, ohne Rücksicht auf jägerliche Vorsicht, verlangte ich indeß die rasche Tödtung durch seine oder meine Hand, was er aber halsstarrig mit dem Bedeuten verweigerte: wenn ich gezeichnet hätte. Nur um ihm den Willen zu thun und dadurch um so rascher des Wildes Qualen zu beenden, griff ich nun hastig nach Stift und Papier, in flüchtigen Umrissen das Opfer mißverstandener Kunstliebe zu fixiren. In vibrirender Unruhe, aber kürzester Frist, habe ich das Blatt, nach dem ich die beigedruckte, natürlich ausgeführtere Zeichnung gebe, geschaffen, denn so lange ich zeichnete, verwendete das schwer- und schweißathmende Thier keinen Blick von mir ab. Dann, so rasch ich entworfen, legte es den schönen Kopf seitwärts und hinter nach dem Anschuß zu, das schmerzgebrochene Auge umflorte sich mit smaragdenem Schimmer, leiser und leiser wurde das Röcheln und – ohne seine Lage zu verändern oder sonst nur zu zucken – hauchte es seinen letzten Athemzug aus. Der Tod war mitleidig dem harten Menschenherzen zuvorgekommen.

„Verdammt sei das Sündenblatt!“ Mit diesen Worten warf ich die erzwungene Studie dem Waidmann vor die Füße, und – sonderbarer Weise – als er sie aufhob, war genau an der Stelle, wo der Anschuß hingehörte, ein Tröpfchen Schweiß gekommen, das in der Fährte an einem Halme gehangen. Mit seinem Herzblut hatte das dem Tode verfallene Original sein nichtiges Conterfei bezeichnet. Noch bewahre ich mir das unscheinbare Blättchen als mahnendes Erinnerungszeichen: auch als Jäger das Mitleiden nie zu unterdrücken.




Blätter und Blüthen.


Sind Frauenaugen die Fenster oder der Spiegel des Herzens? In einer gewählten Damengesellschaft entstand jüngst ein lebhafter Streit über die Frage: „Sind Frauenaugen die Fenster oder die Spiegel des Herzens?“ Einige wollten behaupten, daß die Augen nicht die Spiegel, wie man allgemein zu sagen pflegt, sondern die Fenster des Innern seien, weil man durch die Augen keineswegs den bloßen Spiegelschein, viel mehr den wahren Zustand des Innern sieht. Ferner behauptete man, daß man aus dem Auge, eigentlich aus dem Blicke, eines Menschen nicht nur sein Gemüth und seine Stimmung, sondern überhaupt jeden noch so unbedeutenden Wechsel in seinem Innern, ungeachtet der Verstellung, fast mit Zuversicht erkennen kann. Andere waren gerade der entgegengesetzten Meinung und wollten blos zugeben, daß man nur die Hauptaffecte, wie Freude und Schmerz, nicht aber jede noch so unbedeutende Regung des Herzens und schon gar nicht, wie wir behauptet, die Zuneigung zu einem Anderen aus dem Blicke allein ersehen könne.

Diese Debatten dauerten längere Zeit, bis ich auf den glücklichen Gedanken verfiel, uns zur Schlichtung unseres Zwiespaltes an einen der ersten Humoristen mit der Bitte zu wenden, über den Gegenstand unseres Streites sein unparteiisches Urtheil fällen zu wollen. Sein Ausspruch lautete wie folgt:

„Zu dem innersten Audienzzimmer ‚Herz‘ in dem alten gothischen Gebäude ‚Mensch‘ führen fünf Pforten, genannt fünf Sinne. Der Schall fährt durch das stets offene Ohr; das Licht macht seinen Tagesbesuch durch die Fall- und Aufzugsbrücke des Auges; der Geruch geht durch den Corridor in dem gewölbten Gange der Nase; der Geschmack zieht über den Pont volant der Zunge, und das Gefühl, eigentlich Tastgefühl, tanzt über die Fingerspitzen-Palissaden in’s Audienzzimmer hinein. Zurück aus diesem Audienzsaale, oder besser, aus dieser Ständeversammlung der Sinne mit den beiden Kammern, zurück aus dieser Chambre haute gehen die Beschlüsse des Herzens direct nur durch ein Organ, durch den Moniteur universel des Auges. Das Licht, der Blick, ist die einzige officielle glaubwürdige Hof- und Staatszeitung des Innern. Der glatte ‚Messager des Chambres‘ aber, die Zunge, ist zwar auch ein Organ der Veröffentlichung, allein dieses ist glatt und heuchlerisch, höflich und trügerisch, und es dringt von den geheimen Angelegenheiten nur so viel zur allgemeinen Kenntniß, wie die Politik erheischt. Also nur das Auge ist der Großsiegelbewahrer des Herzensreiches, und was mit diesem Siegel ab- und ausgedrückt wird, ist das einzig Wahre und Untrügliche. Jeder Blick ist ein unwiderleglicher Ausspruch.

Am passendsten lassen sich die Augen – die Fenster des Herzens nennen, denn jeden Morgen werden diese Fenster aufgemacht, sie haben Lädchen (Augenlider) und Vorhänge (Wimpern), sie laufen bei unfreundlichem Geschick trüb an, es fließen Tropfen von innen herab, und am Ende, wenn unser Herrgott das Menschenhaus absperrt, fällt das Fenster zu oder bricht. Allein ein Fenster ist eine bloße Glasscheibe, es spiegelt und malt sich auf ihr selbst gar nichts ab, man kann blos durchschauen; durch ein Fenster fällt das Licht von außen hinein, durch das Auge strahlt das Licht von innen heraus. Ein Fenster ist ein Todter, er sagt Jedem, der hineinschaut, dasselbe. Ein Auge hingegen ist lebendig, es hat für Jeden eine andere Färbung, einen anderen Strahl, ein verschiedenes Licht. Das Auge ist Alles; das Auge ist das Comptoir, in welchem jeder Wechsel der Empfindung erst sein Accept erhalten muß. Der Ring des Auges ist der große Trauring der Gefühle; der Augapfel ist der Reichsapfel der Empfindung, und der Stern im Auge ist der Leitstern des Herzens. Jeder Blick ist ein durch Strahlenfeuer und Thränenwasser gegangener und geprüfter, treuer Tamino; die Iris im Auge ist eine Götterbotin, wie die Iris im Himmel, ihre Sendung ist untrüglich! In der Regenbogenhaut des Auges strahlt der ewige Regenbogen, den der Schöpfer als Zeichen seiner Wahrheit und Liebe einsetzte. Die Augen sind mehr als Fenster, mehr als Spiegel, denn ein Spiegel ist ein Egoist, der nur das wieder vergilt, was man ihm giebt; ein Spiegel ist ein hartherzig kaltes Ding, eine eisige Schöne, die Jedem sein ‚Ich‘ zurückwirft; das Auge hingegen ist der Reichs-Dragoman, der erste Dolmetscher des Herzens; es spricht alle Sprachen und giebt den leisesten Willen des Herzens kund.

Aber es ist vor allen Dingen nöthig, daß man, um diese Sterne zu deuten, die Sternenkunde auch verstehe. Dem Blinden ist selbst der Himmel mit seinen Sternen ein nichtssagendes leeres Blatt, eingeschoben in dem großen Buche der Schöpfung. Dem, der sich auf Augen und Blicke nicht versteht, dem freilich sind Augen und Blicke nichts, als blau, oder grau, oder schwarz gekleidete Livréediener des Herzens, zwei leblose Laternen an beiden Seiten der Gehirnchaise etc. Wer aber die tiefe und sinnige Astronomie und Astrologie dieses Sternenhimmels kennt und versteht, der wird, so wie der Astronom durch die Sternkunde erst die wunderbare Größe Gottes erkennt, auch durch diese Augen-Sternkunde erst die wunderbare Größe, die Schönheits-Allmacht und den Zauberreiz der irdischen Göttinnen – der Frauen kennen, bewundern und lieben lernen! Nach diesen Sternen richtet sich der Compaß aller Nebenschiffchen, die in dem feinen Gewebe unserer Empfindungen hin und herlaufen; nach diesen Sternen richten wir den Weg in der großen Saharawüste unseres Daseins; nach dem Auf- und Niedergang dieser Sterne berechnen wir unseren Lebensmorgen und Lebensabend, und unter diesen Sternen wie unter den wirklichen sucht der Liebende seine ‚Jungfrau‘, der Krieger seinen ‚Schütz‘, der Jurist seine ‚Wage‘, der Sänger seinen ‚Schwan‘ und der Dichter seine ‚Leier‘.“




Das Bärbel am Arenenberg. Die „Gartenlaube“ brachte neulich interessante Mittheilungen über den Aufenthalt des Prinzen Louis Napoleon im Schlosse Arenenberg, das angesichts der grünen Insel Reichenau freundlich vom Thurgauer Ufer aus das weite, schimmernde Seegebiet herabblickt und durch die jüngste Anwesenheit des Kaiserpaares neues Interesse gewonnen hat. Bei meinem Aufenthalte in dem nur wenige Stunden davon entfernten schweizerischen Städtchen Stein am Rhein wurde mir durch Zufall eine Episode aus der Jugendgeschichte des „neuen Cäsars“ bekannt, die ich im Anschluß an den oben erwähnten Artikel und an die letzte Kaiserreise hier mittheilen will.

Es war zu jener Zeit, als die vielgenannte Dappenthaler Affaire die Gemüther der Schweizer erregte. In der Verletzung des Grenzgebietes glaubte jeder Einzelne sich selbst beraubt, denn es liegt einmal in der republikanischen Erziehung und in der patriotischcn Anschauungsweise des Schweizers, daß er überall in den Interessen des Gesammtstaates seine eigenen Interessen und in den Verhältnissen der Republik seine eigenen Verhältnisse gefährdet sieht. Da schwiegen denn endlich einmal die Stimmcn des „Cantönligeistes“, dafür aber schleuderten die dritthalb Millionen Zungen der vier verschiedenen Nationalitäten, aus welchen die Bevölkerung des Bundesstaates besteht, deutsch, französisch, italienisch und romanisch, wie ein einziger grollender Donner den Bannfluch auf den „undankbaren Schweizerbürger“, welchen einst als heimathlosen Flüchtling das ganze, freie Volk mit Gut und Blut gegen den Machthaber des Thrones zu schützen bereit war, von dem herab er nun selbst die geheiligten Grenzen Helvetiens bedrohte. Man muß die Schweizer kennen, um die Unzahl von Flüchen und Verwünschungen zu begreifen, welche damals auf das Haupt des „neuen Cäsars“ geschleudert wurden; jeder Einzelne wäre ihm gern ein „Brutus“ geworden. Nur Eine hörte ich oft das Toben der Männcr besänftigen und zuversichtlich sagen: „Ich hab’ ihn g’kannt, den Louis, ’s war halt a braver Bursch, i glaub’ nit d’ran, daß er was Böses gegen d’ Schweiz im Sinn hat; ‚undankbar‘ ist er halt nimmer g’si.“

Es war eine gutmüuhige, verständige Frau von kaum mehr als vierzig Jahren, die so sprach. Sie wurde von Jung und Alt die Frau Bärbel genannt und war für mich nicht allein die sorgende Wirthin, in deren Hause ich wohnte, sondern namentlich auch die Freundin, mit deren Familie ich am liebsten verkehrte. Gern hätte ich sie wohl gefragt, woher sie den „Louis“ so genau kenne, allein der Gast hat in nordschweizerischen Häusern eine andere

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