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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Vater nicht sehen zu müssen. Kaum war dieser abgereist, so stand der Czarewitsch von seinem angeblichen Krankenlager auf und wohnte einem Zechgelage im altrussischen Styl an. Im August des genannten Jahres schrieb der Czar noch einmal mahnend und warnend an den Sohn. Er wolle ihm sechs Monate Bedenkzeit geben, um den Entschluß einer anderen Lebensführung zu fassen. In dem bisherigen Gleise der Aftergläubigkeit, Unwissenheit und Faulheit dürfe er nicht sich fortschleppen. So er dereinst den Thron besteigen wollte, müßte er dem Vater einen thatsächlichen Beweis der Sinnesänderung geben, und es bestände dieser darin, daß Alexei sich sofort aufmachte und zum Heere käme.

In der That, der Czarewitsch machte sofort sich auf, aber nicht in’s Feldlager, sondern in’s Weite. Des Vaters Rath und Wunsch war ihm Nichts. Er hörte auf Rathgeber wie Alexander Kikin und Nikiphon Wäsemski, welche der Hoffnung lebten, sie würden sich eines Tages des Czaren Alexei als eines leicht handlichen Werkzeugs bedienen können, um das Bartrussenthum und die Bojarenbarbarei wieder herzustellen im heiligen Rußland. Sie riethen dem Bethörten Schlimmstes. –


3. Flucht und Rückkehr.

In welche Wuth der Czar ausbarst, als ihm aus St. Petersburg die Kunde zuging, der Czarewitsch sei mit seiner Concubine Affraßja geheimnißvoll aus der Hauptstadt verschwunden, kann man sich unschwer vorstellen. Oder vielmehr, besser gesagt, nur sehr schwer. Denn wir gebildeten Leute der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts haben sicherlich Mühe, uns so eine echt Peter’sche Grimm- und Grollentladung dieses Ungethüms von Kraftmenschen zu veraugenscheinlichen. In jener Stunde, als der Courier aus Petersburg anlangte, hat sich im Zelt oder Cabinet des Czaren gewiß ein furchtbares Donnerwetter mit Gebrüll und Flüchen, Stockschlägen und Fußtritten entladen. In solchen Augenblicken superlativischen Zorns war der große Czar nur noch eine rasende Bestie, die den Erdball, so sie es vermocht hätte, wüthend in Stücke gestampft haben würde.

Es ist mit Grund zu vermuthen, daß seine Günstlinge dem Czarewitsch eingebildet hatten, der Czar habe ihn blos deshalb zu sich in’s Feldlager berufen, um sich mittelst einer feindlichen oder auch wohl mittelst einer absichtlich irregehenden russischen Kugel seiner zu entledigen, damit die Thronfolge dem Sprößlinge Katharina’s zugewendet werden könnte. Daß der einfältige Prinz einer solchen Einflüsterung Glauben schenkte, war ganz in der Ordnung, und da er eben so feig als albern, läßt sich seine Flucht leicht begreifen. Wir haben aber gesehen, daß Peter der Mann war und offen erklärte, der Mann zu sein, welcher das Recht habe und sich des Rechtes bewußt sei, über die Rachfolge im Reich souverain zu verfügen. Er hat auch nachher gezeigt, daß er der Mann, Angesichts aller Welt, das „brandige Glied“, so es nöthig, abzuhauen, und darum ist es nur thörichter Schwatz und Klatsch gewesen, wenn man nach Art der Kikin und Consorten dem Czaren meuchelmörderische Absichten gegen dem Sohn unterschieben wollte. Es ist wahr, im Dienst und Bann der großen Idee, für welche er lebte, hat Peter, wenn diese Idee, die Größe Rußlands, es forderte oder zu fordern schien, nie gezaudert, zu tödten, nach Umständen Einzelne oder auch ganze Massen; aber ihn zum Meuchler stempeln zu wollen, heißt dem Unhold von großem Czaren Unrecht anthun.

Der Czarewitsch war mit seiner Affraßja – die den Unglücklichen nachmals verrieth, vorgebend, sie sei zum „commerce d’amour“ mit ihm stets nur durch Androhung des Todes gezwungen worden – über Königsberg nach Wien entflohen. Dem letzten Habsburger, dem vorsichtigen Kaiser Carl dem Sechsten, kam der moskowitische Gast nicht sehr gelegen. Indessen weigerte er demselben das erbetene Asyl nicht und wies dem Flüchtling, welcher selbstverständlich in Verborgenheit zu leben wünschte, zuerst das Schloß Ehrenberg in Tirol und dann das Castell San Elmo in Neapel zum Aufenthalt an. Aber schon waren die Verfolger, welche der Czar ausgesandt hatte, der Diplomat Peter Tolstoi und der Gardehauptmann Alexei Romanzow, auf der Fährte des Prinzen. Sie spürten seinen Zufluchtsort auf, und der letzte Habsburger war keineswegs der Mann, welcher nöthigenfalls einen Bruch mit dem wüthenden Czaren riskirt hätte, um die Heiligkeit des Gastrechts unverletzt zu erhalten. Tolstoi und Romanzow sollten, so bestimmte Kaiser Carl, versuchen dürfen, den flüchtigen Prinzen zur Heimkehr zu bewegen.

Die Beiden erhielten demnach Zutritt in San Elmo und überbrachten dem Czarewitsch einen vom 10. Juli 1717 datirten Brief seines Vaters, worin dieser dem Sohne Verzeihung zusicherte, falls er zurückkehren und sich gehorsam erweisen würde. Sein ferneres Schicksal würde ganz von ihm selber, von seiner Führung und seinem Gebahren abhängen. Alexei, der sich in Folge seiner Unwissenheit, Unbehülflichkeit und Trägheit in der Fremde ganz unbehaglich und unglücklich fühlen mochte und mußte, schrieb am 15. October an den Czaren, daß er die angebotene Verzeihung dankbar annähme und unzögerlich heimkehren würde.

So geschah es in der That, und am 3. Februar 1718 langte der Czarewitsch, von Tolstoi und Romanzow begleitet, d. h. bewacht, in Moskau an. Allein hier hatten sich inzwischen mancherlei Fäden zu dem Gewebe der großen russischen Haus-, Hof- und Staatstragödie durch einander geschlungen, deren Held Peter und deren Opfer Alexei war. Die Flucht des Sohnes und was damit zusammenhing, hatte dem Czaren die traurige Ueberzeugung beigebracht, daß Alexei nicht zur Regierung gelangen dürfe, falls nicht Peter’s Schöpfung wieder zu Grunde gehen sollte. Und das sollte sie nicht. Der Entschluß des Czaren war unwiderruflich gefaßt: der Czarewitsch mußte von der Thronfolge ausgeschlossen werden.

(Schluß folgt.)




Aus der Heimath des verkauften Bruderstammes.
Von Otto Glagau.
I.
Das friesische Wattenmeer. – Wattströme und Priele. – Die Schlick- oder Wattläufer. – Die Traaler. – Der Vorspuk.

Ich stand am Westerstrande der Nordfriesischen Insel Föhr und blickte über die gelben Wogen nach dem Schwestereilande Amrum, das in südwestlicher Richtung den Horizont begrenzte, während im Nordwesten die lange schmale Insel Sylt aufdämmerte. Diese drei an der schleswigschen Westküste belegenen Inseln sind die nördlichen Trümmer des alten Nordfriesland.

Zwischen mir und Amrum, dem ich einen Besuch machen wollte, lag ein Arm der vielarmigen Wattensee, fast eine Meile breit, aber man sagte mir, daß ich nach wenigen Stunden hinübergehen könne, trockenen Fußes, wie einst die Kinder Israels das Rothe Meer durchschritten. Schon war das Wasser merklich im Sinken begriffen, in verschiedenen dunkelgefärbten Strömen, die sich mitten durch die See ergossen und sich von dieser scharf abgrenzten, floß es nach dem großen Becken der eigentlichen Nordsee ab, die ich, obgleich schon drei Meilen vom schleswigschen Festlande entfernt, noch immer nicht gesehen hatte. Die vorbeiziehenden Ewer mühten sich, den nächsten Hafen, größere Schiffe die offene See zu erreichen, ehe sie von der Ebbe überrascht würden; aus dem Wasser wuchsen einzelne Hügel empor, unterseeische Sand- und Schlammbänke, und die Küsten von Amrum und Sylt wurden höher und höher.

Immer seichter und trüber wurde das Wasser, und endlich lag auf Meilenweite der nackte Meeresgrund da, zahllose Hügel und Thäler bildend, Alles überzogen von einem graugelben, dickflüssigen Schlamme. Das sind die Wattengründe, neben den Inseln und Halligen die Trümmer des untergegangenen Landes, und sie ziehen sich längs der ganzen schleswig-holsteinischen Westküste in einer Breite bis sechs Meilen hin, eine Wüste von siebenzig Quadratmeilen umfassend, in welcher über einhundert ehemals dicht bevölkerte Kirchspiele begraben liegen. Diese ganze Fläche liegt zur Ebbezeit, wo das Wasser über sechs Meilen zurücktritt, entblößt da. Aber zahllose Rinnen, bald schmäler, bald breiter, bald seichter, bald tiefer, sogenannte Tiefen oder Wattströme, durchschneiden das Wattenfeld in allen Richtungen und theilen es in eine Menge größerer und kleinerer Inseln ab. Einige dieser Tiefen oder Gate tragen auch noch zur Ebbezeit kleinere Fahrzeuge;

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_634.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)