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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Mit dieser Theorie machen die Schillingsbücher in der That Ernst. Sie discutiren über den Inhalt und die Berechtigung der freieren Ansichten nicht, sie begründen den Glauben nicht, sie stellen ihn nur hin als eine conditio sine qua non des sittlichen Lebens und der Seligkeit, als das höchste Gut. Der Glaube hat einen unschätzbaren Werth an sich und deckt vieles Andere zu. Von diesem Standpunkte aus kann man einen Werth darauf legen, wenn ein wüster, zum Nachtwächter degradirter, aber zum Glauben bekehrter Bauer in seinem nächtlichen Rundgesange den dreieinigen Gott lobt, aber außer der Predigt von Buße und Glauben, von Gehorsam gegen die Obrigkeit und von der Sünde und den Sündern bringt man dem Volke auch nichts. An dessen intellectuelle Fähigkeiten wendet die innere Mission sich nicht, dessen geistigen Horizont sucht sie nicht zu erweitern. Diese Welt soll womöglich bleiben, wie sie ist, dörflich, spießbürgerlich, die Vernunft in den Fesseln des Glaubens. Wie man sein Schwein mästet und seinen Acker baut, darüber hinaus soll man nicht denken! Man hat den Katechismus und die Sonntagspredigt, darüber hinaus soll man nicht grübeln!

Mit dieser geistigen Bettelhaftigkeit, die sich nicht nur in den Schillingsbüchern, sondern auch in dem Unterrichtsplan des Rauhen Hauses ausprägt und in dem übrigen Treiben der innern Mission nur mit Mühe verdeckt wird, – mit dieser geistigen Bettelhaftigkeit wäre die innere Mission und mit ihr das Rauhe Haus auch niemals die Macht geworden, die sie sind, wenn sie an dem reactionären Staate unseres Jahrhunderts nicht eine Stütze gefunden hätten. An der Hand des vormärzlichen hamburgischen Polizeistaates kam das Rauhe Haus empor; Senatoren saßen im Verwaltungsrath desselben, die Polizei vermittelte anfangs dem allgemein verbreiteten Gerüchte zufolge, daß die Kinderanstalt Zöglinge bekam, der öffentliche botanische Garten in Hamburg lieferte für die Anlagen in Horn Pflänzlinge von Bäumen und Gesträuchen. Der nachmärzlichen politischen Reaction hat sich die innere Mission mit ihrem Centrum, dem Rauhen Hause, unentbehrlich zu machen gewußt: sie gilt jener als der festeste Damm, der sich der freien Entwickelung entgegenbauen läßt.

Niemand wird verkennen, von welch’ bedeutendem Einfluß es schon sein muß, wenn die höchsten Würdenträger des Staats, die, wie die Listen der Beiträge zum Rauhen Hause ergeben, die Hauptgönner und Förderer derselben sind, mit freigebiger Hand ihre Schatullen öffnen zum Besten eines Bundes von Gläubigen, die es meisterhaft verstehen, diese Huld der „Großen“ mit christlicher Demuth bei „kleinen Leuten“ zu verwerthen. Wenn der König von Preußen für das nach dem Muster des Rauhen Hauses gegründete und organisirte Johannesstift in Berlin Tausende schenkt, und wenn die Königin einen „Bruder“ des Rauhen Hauses zu ihrem Almosenier ernennt, so sind das Signale, die von den Staatsministern, den auf Avancement hoffenden Beamten, dem Hofadel und dem weiblichen Personal der Reaction rasch verstanden werden. Aber dieser Einfluß maßgebender Personen, so nützlich er der Partei ist, hat immerhin doch nur einen privaten Charakter. Indeß er erstreckt sich weit über die Privatschatulle hinaus. Zunächst auf die Kirche, deren wichtigste Aemter zum großen Theil unter gar keiner oder unter einer sehr beschränkten Mitwirkung der Gemeinden von den fürstlichen summis episcopis besetzt werden. In Mecklenburg, in Hannover, in den Lippe’schen Fürstenthümern und vor Allem in Preußen sind z. B. die höchsten Kirchenämter durchweg im Besitz von Parteigängern der innern Mission. Unter ihrem geistlichen Druck bilden und erweitern sich Missionsvereine, werden Rettungshäuser gestiftet und wird die literarische Propaganda organisirt. Von der Kirche rückt der Einfluß dann weiter auf die Schule: der Lehrstoff wird für sie zugemessen und zugeschnitten nach rauhhäuslerischem Maß, und manchem armen rationalistischen Volksschullehrer wird von seinem Geistlichen das irdische Leben so lange heiß gemacht, bis er empfänglich geworden ist für das himmlische Commißbrod eines Wichern und seiner schwarzen Garde.

Und auch hiermit ist die Unterstützung, die der Staat dem Wirken dieser die Freiheit, Vernunft und Wissenschaft bekämpfenden religiösen Fraction leistet, nicht erschöpft. Die zweitausend Thaler Kostgeld, die aus preußischen Staatsmitteln an die Brüderschaft des Rauhen Hauses gezahlt wurden, sind zwar auf Veranlassung des Abgeordnetenhauses zurückgezogen, und ich kann nicht behaupten, daß ein Landesfonds gemeint ist, wenn Wichern berichtet, daß der Staatsminister Graf zu Eulenburg „einen zu seiner Disposition stehenden Fonds von 2500 Thalern“ dem Johannesstift überwiesen habe. Aber die Verwendung der Brüderschaft, der geistlichen Corporation, im Dienste des preußischen Staats, in den Strafanstalten desselben – eine Verwendung, die von Holtzendorff mit Recht so scharf gerügt worden ist – dauert fort, und, was praktisch noch viel bedeutsamer, der Staat gewährt dem rauhhäuslerischen Treiben auf dem Boden des Vereinslebens und der Presse eine völlig privilegirte, monopolisirte Stellung. Den Verfolgungen und Maßregelungen von Arbeitervereinen, freien Gemeinden und liberalen Preßorganen muß man die ungehemmte Bewegung der Missionsvereine und die ungestrafte Circulation der rauhhäuslerischen Literatur, worin ein unbedingter Gehorsam gegen die „Obrigkeit von Gott“ gepredigt und verfassungsmäßige Institutionen des modernen Staats geschmäht und verketzert werden, nothwendig entgegenhalten, um eine richtige Vorstellung von der Lage der Dinge zu gewinnen.

Aber immer noch nicht genug: der Staat, d. h. die Inhaber der Staatsgewalt, helfen selbst bei der Verbreitung der Literatur der innern Mission. An sich ist die literarische Propaganda allerdings auch schon wohl organisirt. Die Brüder des Rauhen Hauses in der Fremde sind die natürlichen buchhändlerischen Agenten. Sie stehen meist in der Mitte von Vereinen, deren Mitglieder Abonnenten auf die fliegenden Blätter des Rauhen Hauses und Abnehmer anderer Schriften sind. Diese Abnehmer vertheilen die Schriften gratis. Aber die Missionsvereine oder in ihrem Namen die „Brüder“ engagiren auch besondere Colporteure, die entweder jahraus jahrein oder jährlich ein paar Monate lang je einen bestimmten Bezirk bereisen und gegen einen Taglohn oder gegen Rabatt ihre Schriften an den Mann zu bringen suchen. In den Städten ist der Absatz meist gering, auf dem Lande größer. Die Colporteure dieser billigen, nur nach Pfennigen berechneten Broschüren sind ohne Concurrenten und würden auch bei eintretender Concurrenz in den von der Cultur wenig beleckten ländlichen Districten, zumal wenn ihnen das Fürwort des Pfarrers oder Küsters nicht fehlt, einstweilen noch siegreich bestehen. Indeß, wie gesagt, auch hier hilft der Staat. Nicht nur durch die officielle Empfehlung der Literatur des Rauhen Hauses und der innern Mission, sondern in den fliegenden Blättern Wichern’s lese ich in dem Bericht eines schlesischen Missionsvereins, daß den Landräthen von einer Schrift je hundert Exemplare zugeschickt wurden. Daß diese sie an die Dorfschulzen u. s. w. befördert haben, steht nicht dabei, aber nach dem, was mit den reactionären politischen Blättern vorgekommen, ist nicht daran zu zweifeln.

Die innere Mission und das Rauhe Haus sprechen von der „rettenden Liebe“, allein dasjenige, um das es ihnen eigentlich und hauptsächlich zu thun, ist der „streitende Glaube“. Auf diese Predigt des streitenden verfinsternden Glaubens hin giebt ihnen der Absolutismus ein Privileg und ein Monopol. Und in dieser privilegirten Stellung, die sie in dem größten Staate Deutschlands einnehmen, ruht die Gefahr, womit sie das deutsche Leben bedrohen.

Um so mehr Ursache haben die Philanthropie und der gesammte Liberalismus, dem Rauhen Hause und Allem, was mit ihm zusammenhängt, gegenüber, die Augen offen zu halten. Hier ist das Hauptquartier eines gefährlichen, gemeinschaftlichen Gegners. Es mag als eine komische Consequenz erscheinen, wenn der rationalistische Hamburger Hauptpastor Schmalz es einstens ablehnte, der Uebermittler einer für das Rauhe Haus bestimmten Gabe zu sein, aber im Grunde hatte der Mann doch Recht. Mit dieser jedem Fortschritt sich entgegen stemmenden Institution, mit diesem nach rückwärts gewandten Verein, mit diesem auf dem positiven Glauben und dem mittelalterlichen Dogma fußenden Bruderbunde sollten wir Kinder der modernen Welt, die wir nur ein Fünkchen von Liebe hegen für die Freiheit und für freie Einrichtungen, freie Kunst und freie Wissenschaft, keine Gemeinschaft haben, ihnen keinerlei Vorschub leisten.

Karl Volckhausen.



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