Seite:Die Gartenlaube (1865) 744.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Deutschlands größte Räuberburg.
Ein österreichisches Natur- und Culturbild, von Friedrich Hofmann.

Man wird es heute kaum für möglich halten, daß in einem Alpenthale, bei welchem die Grenzen der industrie- und verkehrreichen Länder Steiermark, Kärnthen und Krain zusammenstoßen und das selbst über sechshundert Einwohner zählt, viele Jahre lang gegen dreihundert dem Strafgesetz verfallene oder entwichene Menschen das freieste und großartigste Räuberleben führen konnten. Um diese Möglichkeit zu begreifen, müssen wir in das „Nachtquartier“ vordringen, wo der „Mond“ ihre „Sonne“ war.

Wer, sei es von Wien her über den Sömmering, oder von Triest her über den Karst, die bezwungene, wilde Gebirgsnatur auf den kühnsten Schienenwegen an sich vorüberstürmen ließ, der gelangt im grünen Steiermark in ein Thal, wo er freudig aufathmet und gern verweilt: das Thal von Cilli oder das Santhal, wie es nach seinem Hauptflusse genannt wird. Man braucht hier nur zu der nahen Terrasse des „armen Capuzinerklösterleins“ jenseits der San am Abhang des Nicolaibergs emporzusteigen, um nicht nur den Anblick über das stundenweit gen Norden, Osten und Westen hin sich ausbreitende und von sanften Hügeln durchzogene Thal zu genießen, sondern zugleich schon hier zu einer Riesenburg „freier Flüchtlinge“ hingelockt zu werden, denn als Rahmen des Thalbildes ragt am Horizont eine ununterbrochene Reihe von Alpen-Zügen, -Rücken und -Köpfen, bald waldbedeckt, bald starrer Fels, bald in weichen Linien, bald in der weißröthlichen Felsenpracht der südlichen Kalkalpenkette empor – nach rechts hin die waldigen Höhen, die nach Ungarn und Croatien hinüberstreichen, gerade vor uns das Bachergebirge mit meilenweiten Urwäldern über den Marmorlagern, aus denen einst die Römer die Paläste ihrer großen Stadt Claudia Celleja bauten, auf deren Fundamenten jetzt das kleine Cilli steht; zur Linken aber beginnt eine wilde Bergwelt, vor welcher der heilige Kreuzberg und die heilige Ursula mit ihren weißen, hellleuchtenden Wallfahrtskirchen jeden frommen Christenmenschen zu warnen scheinen, dort drohen die sägeförmigen Zinken, Pyramiden, Nasen, Hörner und Zacken der Kalkfelshäupter so reizend zu uns herüber, daß wir den Pater Capuziner, der just am Marterkreuz beim Thor der Klostermauer gebetet hat, fragen: „Was sind das für herrliche Berge?“

„O,“ sagt er und blickt uns, den Zeigefinger vermahnend erhoben, groß an, „das ist ein abscheuliches Gebirg, wohin kein Mensch reist. Sie heißen’s zwar die Untersteierische Schweiz und der Fluß da unten, die San, kommt dorther, aber gehen Sie ja nicht dorthin, denn wenn auch das Sulzbacher Thal, das jene schiechen Berge einschließen, schon ein zwölf bis vierzehn Jahre her vom großen Raubgesindel durch das kaiserliche Militär gereinigt ist, so finden’s ja doch nichts dort, als einsame Steige und schreckliche Felsen.“

Ein abscheuliches Gebirg, wohin kein Mensch reist, einsame Steige und schreckliche Felsen, und zu alledem noch jüngst der Sitz einer großen Räuberbande – bedarf es einer weitern Empfehlung zum Besuch desselben für Jeden, der die vom Touristenschwarm plattgetretenen Straßen scheut? Die Leute in Cilli halten es jedoch noch heute immerhin für gerathen, in die Sulzbacher Alpen sich nicht allein, sondern nur in Gesellschaft und nicht ganz unbewaffnet zu wagen.

Von Cilli bis eine Stunde vor dem Markt Laufen folgt man der alten Poststraße von Graz nach Laibach; sie biegt dann nach Süden ab, während der Weg nach Sulzbach westlich weiter geht. Je näher an Laufen, desto mächtiger treten die Gebirgsriesen uns entgegen, aber erst später zeigt es sich, daß sie nur die Thürme einer großen, schier uneinnehmbaren Veste sind, in deren Außenwerken man schon von Sausen an wandert und zwar längere Zeit ohne es zu wissen, weil anfangs die himmelhohen Wälle dieser Burg vor lauter Wald nicht zu sehen sind. Zwei Stunden lang führt der schmale Weg die San entlang, bald hart an dem Felsenufer des schäumenden und tosenden Bergwassers hin, bald an steilen Abhängen aufwärts in immer unheimlichere Einsamkeit. Da, eine plötzliche Windung des Weges – und vor uns liegt das Dorf Leutschdorf und jenseits desselben trotzt uns eine ganze Seite der Veste entgegen; dort der 7422 Fuß hohe Thurmberg Oistritza, von dem aus als unübersteiglicher Wall der Roßberg quer über das Thal hinzieht, während im Süden die Karnitza und im Norden die Raducha, beide weit über 6000 Fuß hohe, felsenstrotzende Eckthürme dieser Alpenburg bilden.

Hier, in Leutschdorf, hat jeder Reisende sich ehrlich zu gestehen, ob er eines schwindelfreien Kopfes Herr ist; wer zum Schwindel neigt, muß, wenn er mit in das Innere der Felsenburg dringen will, hier ein Pferd besteigen und im Bette der San hineinreiten. Die Uebrigen setzen zu Fuß ihren Weg fort, der gleich außerhalb des Dorfs über einen Steg auf das linke Ufer der San springt und nach ungefähr einer Stunde vor einer ungeheuren Naturbastei stehen bleibt. Der Logerfels gebietet hier Halt! Nur wer sich aufs Klettern versteht, benützt die in das Gestein gehauenen Stufen und erklimmt die Höhe. Oben führt der Steig am Eingang zu einer Höhle vorüber, die noch unerforscht sein soll, obwohl der Volksmund behauptet, sie reiche bis nach Kärnthen hinüber und habe im Fellachthale ihre Mündung. Jenseits derselben senkt sich abermals unser Pfad steil zur dunkelgrünen San mit ihren blüthenweißen Schaumspitzen hinab, um den Wanderer bis vor den letzten Felsenwall zu geleiten. Abermals gilt es, über zweihundert Fuß hoch am Felsen hinanzuklimmen, die San unter uns im Abgrund, und nirgends sehen wir die Möglichkeit, weiter zu kommen. Da zeigt sich endlich eine Spalte in der außerdem unübersteiglichen Felswand. Tritt man näher, so hat man ein Naturthor vor sich, das dreizehn Fuß hoch und drei Fuß breit ist; und wenn wir etwa sechs Fuß weit in ihm vorschreiten, stehen wir vor einem tiefen Felsenriß, wie vor einem letzten Wallgraben, über welchen ein schmales Bret führt. Dieses Bret ist die Zugbrücke zur Festung. Auf der ganzen steiermärkischen Seite ist kein anderer Zugang in das Sulzbacher Thal möglich, als durch diese Spalte, die das Volk wegen ihrer Aehnlichkeit mit einem Nadelöhr die Nadel (wendisch: jigla) nennt, und im Bette der San, das jedoch leicht durch Felsbrocken und Baumstämme undurchdringlich zu machen ist, wenn der von längeren Regen, Gewittern oder vom Schneeschmelzen angeschwollene Bergstrom nicht selbst die Benützung seines Bettes verbietet. Wer jenseits des Abgrunds stehend das Bret wegnimmt, hat die einzige Zugbrücke des Bollwerks aufgezogen.

Wir eilen über den schwindelnden Steg – und sind in der verrufenen Räuberburg. Unwillkürlich verfällt hier die Gesellschaft, sollte sie bis dahin noch so heiter gewesen sein, einem plötzlichen eigenthümlichen Ernst. Zugleich wächst mit jedem Schritte das Staunen vor der Größe dieser Festung, denn erst nach anderthalbstündigem Marsche erreicht man den Mittelpunkt des Thals in dem Dorfe Sulzbach, einer zerstreuten Gruppe von etwa achtzehn Häusern. Des Dorfes alte Pfarrkirche ist der heiligen Maria in Sulzbach geweiht, die während der langen Räuberzeiten ohne Zweifel manches wunderliche Gebet um Hülfe und Beistand zu hören bekommen hatte. Ein zweites Dorf des Thals ist das zum Heiligen Geist, von der halben Größe Sulzbachs. Die übrigen Häuser der Gemeinde liegen zerstreut an den Hängen des Gebirgs; im Ganzen zählt man deren etwa achtzig.

Wer die Räumlichkeit dieser Riesenveste und ihre Hochgebirgswälle weiter kennen lernen will, muß dem Ursprung der San nachforschen. Dies führt zunächst in eine Felsenschlucht, in welcher der wilde Bach uns donnernd entgegenstürzt und kaum Platz läßt zu schmalen Pfaden, die oft von einem Ufer zum andern, doch stets auf sicheren festen Stegen, übergehen. Diese Wanderung währt über eine Stunde; aber sie gestattet über all die bewaldeten Vorberge hinüber den Blick auf den nördlichen Hauptwall, welcher das Sulzbacher Thal von Kärnthen trennt durch den siebentausend Fuß hohen Ouschowa (Schafberg) und seinen langgestreckten Rücken; noch imponirender tritt er uns am Ausgang der Schlucht gegenüber, wo er vom tiefen grünen Grund einer breiten Matte in seiner vollen Pracht zum Himmel strebt. Auf dieser Matte liegt ein stattliches Bauerngut, dessen Besitzer „der Logarbauer“ heißt; neben dem Gehöfte bricht vom Schatten uralter Erlen bedeckt die San unter einem Felsblock hervor. Boden- und Quellenkundige behaupten jedoch, daß hier nur eine Stätte der Wiedergeburt der San sei; um zum eigentlichen Ursprung derselben vorzudringen, muß man an der westlichen Wand des urwaldgekrönten Felsenwalles hinanklimmen und dies führt uns vor das großartigste

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_744.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2022)