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weiß, woran er ist. „Die Ja haben die Mehrheit“ oder: „die Nein haben die Mehrheit,“ verkündigt er von seinem Marmortisch, und die Maschine arbeitet weiter. Wie in einer Druckerei die Bogen, werden hier die Amendements erledigt. Alles geschieht mit äußerster Raschheit, wenn nicht eine Hauptdebatte ist, und alles wird mit derselben tonlosen, seelenlosen, theilnahmlosen Automatenstimme dirigirt. Wir Profanen finden das langweilig und unschön, die Eingeweihten aber werden es wohl besser wissen, und jedenfalls wird es praktisch sein.

Die Sitzungen des Hauses beginnen um die Mittagsstunde und dauern gewöhnlich bis gegen Abend, sehr selten bis acht Uhr, niemals wie in London die Nacht hindurch. Die Zahl der Mitglieder, die bekanntlich vom Volke gewählt werden, während der Senat oder die erste Kammer aus Wahlen der Legislaturen in den einzelnen Staaten hervorgeht, beträgt jetzt 236, von denen während des Krieges gegen sechszig, statt auf ihrem Platze, im südlichen Lager waren. Die meisten Repräsentanten, dreiunddreißig, sendet New-York, der „Empire State“, in den Congreß, dann folgt Pennsylvanien mit fünfundzwanzig, dann Ohio, der zu einem Drittel deutsche Staat der Buckeyes, mit fünfundzwanzig Repräsentanten. Und so geht es herab bis zu Delaware, Florida und Kansas, die nur mit je einer Stimme vertreten sind.

Gehen wir durch den Vorsaal zurück nach der Rotunde, so begegnen wir einer Menge von pfiffig aussehenden, geschäftigen Gesellen, die mit einzelnen Mitgliedern angelegentlich discutiren, Briefe und Bittschriften übergeben und allerlei geheime Anliegen befürworten. Es sind „Lobby-Members“, Vorsaalsmitglieder, Wirepullers und Pipelayers, Parteiagenten, politische Intriganten und Industrieritter, die man auch in den Bureaus der Ministerien zahlreich antichambriren und das „Weiße Haus“ umschwärmen sehen kann. Ueberall darauf bedacht, im Trüben zu fischen, sind sie eines der unsaubersten und gefährlichsten Elemente im amerikanischen Staatsleben. Doch thun wir wohl, uns nicht zu gratuliren, daß unter uns diese Sorte von Politikern fehle. Wir haben sie auch, sie schmarotzen an den Höfen und sie schmarotzen am Volke, nur treten sie nicht so keck und dreist in die Öffentlichkeit wie jenseits des großen Wassers.

Der Sitzungssaal des Senats liegt in dem rechten Flügel des Capitols und ist ähnlich wie der des Repräsentantenhauses eingerichtet, nur etwas kleiner, da gegenwärtig nur vierunddreißig Staaten existiren, und, indem jeder demselben zwei Senatoren stellt, nur achtundsechszig Sessel und Pulte nöthig sind. In einiger Zeit wird es anders aussehen. Es ist noch genug Raum für Senatoren von Canada, Neu-Braunschweig etc., und dieser Raum wird ausgefüllt werden, darauf kann sich John Bull, wie sehr es seinen Stolz auch verdrießen mag, mit aller Bestimmtheit verlassen. Im Senat ist das Dirigiren der Debatte, welches hier nach der Constitution dem Vicepräsidenten der Union obliegt, nicht so schwierig, wie im andern Hause, und zwar nicht blos, weil die Mitgliederzahl geringer ist, sondern ebenso, weil hier ältere Herren von gesetzterem und manierlicherem Wesen die Versammlung bilden. Doch sind auch hier bisweilen starke Reden gefallen, die nichts mit dem Complimentirbuch gemein hatten; ja eine der fatalsten Kundgebungen südlichen Anstandsgefühls – die förmliche Durchprügelung Charles Sumner’s, „Gentlemans“ von Massachusetts, durch Brookes, „Gentleman“ von Südcarolina – ereignete sich gerade in diesem hohen und in der öffentlichen Meinung der Amerikaner höher als die zweite Kammer des Congresses geachteten Hause.

Man sieht, die Zukunft hat noch Manches zu bessern in Washington wie in Amerika überhaupt, aber sie wird es auch bessern. Ob sie die Lücken im Plane der Stadt ausfüllen, ob sie derselben Statuen, welche das Auge des Kunstfreundes nicht beleidigen, ob sie der großen Rotunde des Capitols einmal einen Raphael geben wird, der sie würdig schmückt, wird abgewartet werden können. Mehr Gefahr im Verzuge findet der Freund der Union in Betreff der Würde des legislatorischen Verfahrens und in Bezug auf jenen Schweif von politischen Industrierittern, die sich um die Gesetzgeber wie um die Offices der Regierung beutesuchend herumschlängeln. Dieser Schweif sollte zuerst abgehauen werden. Der Krieg aber, der sonst Manches bei Seite gethan, hatte ihn eher verlängert als gekürzt.




Der Dorfcaplan.
Erzählung aus Oberbaiern nach einer wahren Begebenheit.
Von Hermann Schmid.
(Ende.)
4.

Es konnte nicht fehlen; die Vorgänge im Dorfe machten Aufsehen, das Gerücht trug sie vergrößert bis in die Hauptstadt, wo man sie wichtig genug fand, einen eigenen Commissär zur Untersuchung abzusenden, und bei der günstigen Stimmung der Einwohner war es vollkommen erklärlich, wenn die Verhöre zum Nachtheile für die Pfarrhofbewohner ausfielen und Isidor im besten Lichte erscheinen ließen. Als besonderes Verdienst ward ihm angerechnet, daß er es gewesen, der den Ausbruch des drohenden Tumults mit wenigen Worten verhütet hatte, und das der Aufklärung geneigte Regiment jener Zeit nahm davon Anlaß, auch die Kirchenbehörde zu einer mildern Auffassung zu bestimmen. So ward es möglich, die Vorfälle mit einem Bescheide abzuschließen, der nach allen Seiten hin befriedigte, um so leichter, als der Pfarrer, dem der Ort verleidet war, seine Stelle freiwillig niederlegte und sich auf eine einträgliche Pfründe im nächsten Städtchen zurückzog.

Er reiste eines Morgens unerwartet ab und reiste allein – von dem Fräulein war nichts mehr zu hören und zu sehen: von dem Augenblicke ihrer Flucht an war sie spurlos verschwunden.

Auch Franzi’s Schicksal blieb ungewiß bis das Frühjahr zu Ende ging und die Wasser anfingen, sich zu verlaufen, da ward draußen, weit im ebenen Lande, eine weibliche Leiche gefunden, zwar entstellt und unkenntlich, aber bäurisch gekleidet – fortan zweifelte Niemand mehr, daß das Mädchen den Tod im Strome gesucht und gefunden.

Isidor ward als Verweser der Pfarrei berufen und bezog den Pfarrhof, Vater und Mutter mit sich nehmend, denn es war erwünschte Gelegenheit gekommen, das erblose Besitzthum günstig zu veräußern. Die große, mit der Stelle verbundene Landwirthschaft gab Isidor in Pacht und erklärte, auch als ihm nach einiger Zeit angetragen wurde, wirklich Pfarrer zu werden, daß er das nicht annehmen, sondern Caplan bleiben wolle. „Ihr habt es so gewünscht,“ sagte er lächelnd zu der ihn drängenden Gemeinde. „Ihr wolltet keinen Pfarrer mehr haben und ich will Euch den Willen thun!“ Dabei blieb er auch standhaft Jahre hindurch und beschränkte sich auf einen kleinen Theil der Einkünfte, den übrigen weit größern überließ und verwendete er zu öffentlichen Zwecken. Vor Allem lag ihm die Schule am Herzen; der alte, ungefüge Lehrer mußte einem tüchtigen, gebildeten Manne weichen, der im Sinne Isidor’s und Hand in Hand mit ihm arbeitete. Das Schulhaus ward vergrößert, die Einkünfte des Lehrers vermehrt und der Besuch auch den Aermsten möglich gemacht; mit liebevollem Ernste hielt er daran fest, daß Alle die Schule besuchten, und hatte bald die Genugthuung, daß Kinder und Eltern, war es auch nur ihm zu Gefallen, darin wetteiferten. Er nahm an Allem Theil, was in den Familien und Häusern seiner Pfarrkinder vorging; ohne je sich aufzudrängen, war er immer nahe und bald war er überall der vertraute Freund und Berather, an dessen Thür man zuerst pochte in der Trübsal und der nicht fehlen durfte, wenn es galt, einen Tag häuslicher Freude zu begehen. Auch von den öffentlichen Vergnügungen schloß er sich nicht aus; er hielt es für seine Pflicht, solche Anlässe durch sein Erscheinen unmerklich zu regeln und zu zügeln, und war der Ansicht, nur der kenne den Menschen, wer ihn in der Freude gesehen, und nur wer ihn vollständig kenne, vermöge auf ihn zu wirken.

Seine wenige übrige Zeit widmete Isidor den vielfachsten Studien; er wollte in allen Dingen, die dem Landmann und dem Kleinbürger nöthig oder nützlich sind, die vollste Kenntniß haben, um in Wirklichkeit das anzustreben, was zu sein er für seine Aufgabe hielt, der Tröster, der Berather, der Freund Aller.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_782.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)