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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Er selber war still geworden, noch mehr in sich gekehrt als früher, aber er genoß jener heitern, innerlichen Freudigkeit, ohne welche dem Menschen nichts gedeiht und gelingt. Sein redliches Ringen nach Frieden hatte sich gelohnt; der Sturm hatte die Wurzeln seiner Entschlüsse befestigt, der Schmerz seine Seele geläutert – er stand wie in einer Landschaft, über welche ein furchtbares Gewitter vernichtend und doch Segen bringend hinweggezogen; in dem Gewölke verborgen war die Sonne der Leidenschaft hinuntergegangen, aber das schmerzlich-wehmüthige Andenken an die holde unglückliche Gefährtin seiner Jugend stand in der Höhe, wie in dem dämmerigen, wieder gereinigten Himmel der einsam schimmernde Abendstern. Es war eine Sühne, die er für die eigene Schuld sich auflegte; kein Tag verging, wo er nicht in frommem Gebet der treuen Verstorbenen gedachte, die um seinetwillen sich geopfert, um ihn zu retten, sich vor den Thron des ewigen Richters gedrängt, eh’ dieser sie gerufen.

Jahre zogen gleichmäßig so dahin.

Da traf eines Tages im Pfarrhause ein Brief aus der Hauptstadt ein, von unbekannter Hand und ohne Unterschrift; er enthielt die Aufforderung an den Caplan, schleunigst an einen ihm bezeichneten Ort in der Hauptstadt zu kommen; bei seinem Eifer für das Seelenheil der Seinen ward er beschworen, nicht zu zögern und nicht zu zweifeln und sich einer Sterbenden zu erbarmen, deren belastete Seele sich von dem siechen Körper nicht zu trennen vermöge, bis sie ihre ganze Schuld in seinen Busen ausgeleert … Isidor besann sich nicht lange; war ihm auch Schrift und Siegel völlig fremd, lag auch die Möglichkeit einer Täuschung nahe – er wollte lieber getäuscht sein, als sich sagen zu müssen, er sei einem Rufe nicht gefolgt, der in so ernst mahnender Weise an ihn ergangen.

Der nächste Tag fand ihn an dem bezeichneten Orte, einem einfachen in Gärten gelegenen Häuschen, an dessen Schwelle eine Magd stand und ihn zu erwarten schien. Sie geleitete ihn eine schwach beleuchtete Treppe hinan, deren Stufen wie die Hausflur so dicht mit Teppichen belegt war, daß der Fuß lautlos darüber glitt. Kaum war er in das ihm bezeichnete Zimmer getreten, das gleich dem ganzen Hause etwas Nonnenhaftes und Klösterliches an sich trug, als eine Thür gegenüber aufging und eine Frauengestalt ganz in Schwarz gekleidet an der Schwelle stand; das Antlitz war ernst und sorgenvoll, unter dem dunklen Schleier schimmerte weißes Haar.

Es war Amélie, das Pfarrfräulein.

„Sie sind es, mein Fräulein?“ rief Isidor und trat einen Schritt zurück. „Sie wagen es, noch einmal meine Wege zu kreuzen und durch eine neue Lüge mich hierher zu locken? Es ist eine Sterbende, zu der ich gerufen bin!“

„Sie sind nicht getäuscht, mein Herr,“ entgegnete das Fräulein unterwürfig, „leider sind Sie es nicht; Sie werden an ein Sterbebett treten müssen … aber erst hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe …“

Isidor ließ sich unruhig auf den angebotenen Sitz nieder; ein Gefühl unsäglicher Bangigkeit kam über ihn.

„Erlauben Sie, daß ich von mir selbst beginne,“ fuhr das Fräulein fort, „es ist unerläßlich, damit Sie fassen, was Sie zu hören haben … Vor Allem glauben Sie nicht, daß ich noch dieselbe bin, wie ich Ihnen früher gegenüber gestanden; wie mein Körper, hat auch meine Seele gealtert … ich bin eine Andere geworden, ich habe dem Schein und der Heuchelei entsagt, ich habe mit dem Haß gebrochen, um der Liebe willen … Ihr Edelmuth an jenem verhängnißvollen Tage schlug mir die Waffen aus der Hand … die schreckliche Stunde in der dunklen Einsamkeit jener Kammer vollendete die Wandlung … ich hörte jedes Wort, das draußen gesprochen ward, und ein Blitz schlug in meine Seele, der mich niederwarf, aber zugleich auch mit seiner Flamme den Weg zur Rettung beleuchtete … Sie kennen meine Abstammung,“ begann sie nach tiefem Aufathmen wieder, „Sie wissen, daß mein Vater ein sehr hochgestellter Beamter war; meine Jugend verging in gedankenloser Freude, denn mich umgaben Schönheit, Reichthum und Rang, ich war die Gefeierte in den Kreisen der Gesellschaft und die Bewerber drängten sich von allen Seiten – mein Hochmuth war Ursache, daß ich mit der Wahl zögerte, denn ich wollte keinen Andern wählen, als den, der sich wirklich als der Erste und Ansehnlichste von Allen erweisen würde … So schien ich kalt vor der Welt und rein – vor mir selber war ich es nicht! Einer der Männer, denen ich zum Unterricht anvertraut gewesen, hatte seine Stellung mißbraucht, eine sträfliche Neigung in mir zu wecken … während man meinen Wandel als einen musterhaften pries, lag ich heimlich in den Banden des Lasters … bis der Donnerschlag kam, der mich aus meinem Sündentaumel aufrütteln sollte! … Ich fühlte mich Mutter … der Verzweiflung nahe, durch das Geheimniß noch mehr an den Verführer gefesselt, war ich vollends, war ich willenlos seinen listigen Rathschlägen preisgegeben … Es gelang meiner Heuchelei, meinem edlen arglosen Vater die Erlaubniß zu einer kleinen Reise abzuschmeicheln; ich reiste nicht weiter, als in den von meinem Genossen bereit gehaltenen Schlupfwinkel … mein unglückseliges Kind. das ich nie gesehen, blieb in den Händen jenes Mannes … er wußte mich zu überzeugen, daß zur Rettung meiner und seiner Ehre jede Spur desselben verschwinden müsse … ich kehrte in das Haus meines Vaters zurück, als habe eine plötzliche Erkrankung mich zur Unterbrechung meiner Reise bewogen … das Kind ward an einem Orte ausgesetzt, wo es sicher war, gefunden zu werden …“

„Gott, mein Gott!“ rief Isidor. „Welche Ahnung wecken Sie in mir!“

„Die Ahnung …“ fuhr sie mit Anstrengung fort, „täuscht Sie nicht … mögen Sie über mich urtheilen, wie Sie wollen, mögen Sie mich verdammen, wie ich es verdiene, Sie müssen Alles wissen. Die Behörden der Stadt mußten des Kindes sich annehmen, sie gaben den Findling auf’s Land, zu Bauersleuten in die Pflege … Jenes unglückliche Mädchen, das ich verfolgt, das ich in den Tod getrieben … es war … meine Tochter …“

Sie war in der Qual des Bekenntnisses vom Stuhle herabgeglitten und barg das Gesicht in den Kissen – wortlos, erschüttert stand der Caplan.

„Als ich das Mädchen nach Jahren zuerst erblickte,“ sagte das Fräulein nach einer Weile mit mühsamer Fassung, „da stieg eine unsäglich freudige Regung in meinem Herzen auf … o daß ich ihr gefolgt! Ich hätte mein Leben und auch wohl das ihre in einen Blumengarten verwandelt – aber ich hatte mein Herz gewöhnt, zu schweigen, ich hatte mich eingeübt, alle Regungen in mir zu ersticken … der stille Groll über mein Geschick, der heimliche Neid fraß an mir, denn die Stellung, in der ich mich damals befand, widerstrebte meinem Stolz, und doch war ich gezwungen gewesen sie anzunehmen … das Geheimniß meines Lebens fing ja an, wenn auch nur als ferne Vermuthung, ruchbar zu werden … der Gram riß meinen Vater rasch dahin, ich stand allein und fühlte bald, wie sehr ich es war. So war mir das Anerbieten meines Onkels ein willkommenes – ich konnte dennoch herrschen, konnte eine Rolle spielen, konnte der Verbissenheit meines Gemüths Luft machen und Andern einen Theil des Leids anthun, das ich innerlich empfand – so ward die anfängliche Neigung zu ihrem Gegensatze, zum Hasse … Urtheilen Sie nun, was in mir vorging, als ich in jenem Versteck gefangen von dem Ringe mit den drei Sternen hörte … ich wollte heraus stürzen in Verzweiflung, meine Schmach und mein Verbrechen vor Allen zu bekennen und meine Strafe zu fordern – aber ein Gedanke, der wie eine Erleuchtung mich überkam, hielt mich zurück: der Gedanke, daß vielleicht noch Hülfe möglich sei … ein Fenster öffnete sich meiner Flucht … ich wollte die Rettung versuchen, wo nicht, den Tod finden, wo mein Kind ihn gefunden …“

Sie hielt inne; Isidor hatte sich erhoben. „O, vollenden Sie,“ rief er in größter Erregung, „meine Seele horcht Ihren Worten entgegen!“

„Ich kam,“ fuhr sie fort, „lange vor Ihnen am Ufer des Flusses an; ich sah, wie die Fußtritte im Schnee unmittelbar in den Strom führten, und rannte trostlos hin und wieder … da gewahrte ich, daß eine gute Strecke stromaufwärts dieselben Spuren wieder aus dem Wasser heraus führten … das Mädchen war also in den Fluß getreten, dann im Flusse stromaufwärts eine Strecke fortgegangen und wieder an’s Ufer gestiegen … sie hatte also nicht die Absicht zu sterben; sie wollte nur für todt gelten … das durchzuckte mich mit einmal mit Blitzesklarheit … Ich suchte weiter, sie konnte ja noch keine große Entfernung erreicht haben und zu meinem namenlosen Entzücken gewahrte ich sie bald, im Gebüsche liegend, aber in tiefer Ohnmacht, fast erstarrt von der furchtbaren Erkältung im Wasser, das ihr an den Kleidern gefror …“

„Heiliger Gott!“ rief Isidor und faltete die Hände zum Gebet. „Ist es denn ein Traum? Auch den letzten Stachel nimmst

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_783.jpg&oldid=- (Version vom 31.12.2022)