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und dort einen Wellenschlag erzeugt, der ein Schiff von der Größe des Fox, auf dem M’Clintock seine Fahrt gemacht, gleich einer Nußschale umherwirft. Der Humboldt-Gletscher, dessen Ausdehnung über einen ganzen Breitengrad die staunende Bewunderung Kane’s und seiner Gefährten erregte, ist nur ein Theil des grönländischen Binnengletschers. „Eine lange, glänzende Klippe,“ so beschreibt Kane den Humboldt-Gletscher, „zieht sich in einer Quere fünfzehn geographische Meilen lang wie eine feste Glaswand von dreihundert Fuß Höhe in unabsehbare Ferne. Das innere Eismeer, mit dem der Gletscher in Verbindung steht, ist ein Schnee- und Eisfeld, für das Auge von grenzenloser Ausdehnung. Zum Beweise seiner im Fortrücken begriffenen Bewegung hört man von Zeit zu Zeit tief hallende oder krachende Töne, die dem Donner oder entfernten Kanonenschüssen ähnlich sind. Am Ufer selbst läßt sich die große Artillerie der Eismauer vernehmen, denn diese wirft beständig ihre Abbrüche ab, wodurch die Eisdecke des Meeres meilenweit durchschlagen wird.“ Ist das Ufer flach, so schiebt der Gletscher sein Eis eine Strecke in’s Meer hinaus, bis es im tieferen Wasser gehoben wird und abbricht.

Auf der asiatischen Polarseite sind die Verhältnisse dem Nordpolfahrer weit günstiger. Hier ist kein die Eisbildung begünstigendes Gewirr von Inseln und Wasserstraßen wie im Westen. Vor allen Dingen trifft man auf der asiatischen Seite die warme Meerströmung, die wir den Golfstrom nennen, weil sie vom mexikanischen Meerbusen zu uns kommt. Sie geht in schräger Richtung von Amerika zu uns herüber, hält das Nordcap und die Bai von Kola Jahr aus Jahr ein vom Eise frei, berührt die Westküste von Spitzbergen und von Nowaja Semlja, den Taimyr-Busen, die neusibirischen Inseln und strömt durch die Behringsstraße in das große Weltmeer. Dort trifft der Golfstrom mit einer der beiden kalten Strömungen zusammen, die vom Pol ausgehend an Amerika hinströmen. Der klimatische Unterschied, der durch das Vorherrschen der kalten Strömung an der amerikanischen und der warmen Strömung an der europäischen und asiatischen Küste hervorgerufen wird, ist ein ungeheuerer. Ein Beispiel möge genügen. Auf der amerikanischen Seite liegt die Insel Melville, auf unserer Seite, um keinen ganzen Grad südlicher, die Bären-Insel. Auf der Melville-Insel blieb das Quecksilber fünf Monate lang gefroren und die Lebensmittel mußten mit der Axt zerhauen werden. Auf der Bären-Insel bleibt der Schnee selten lange liegen, Regen um Weihnachten ist keine seltene Erscheinung und die norwegischen Fischer brauchen während des kältesten Monats ihre Arbeiten im Freien nicht auszusetzen. Auf Packeis, d. h. von Winden und Strömungen zusammengetriebene Massen eines verhältnißmäßig lockern Eises, werden die deutschen Nordfahrer auch auf der asiatischen Seite stoßen. Solches Eis bildet überall in der arktischen wie in der antarktischen Zone einen Gürtel, der durchbrochen werden muß. Jenseits dieses Gürtels ist unbedingt auf ein eisfreieres Meer zu rechnen als in den amerikanischen Meeren und gegen die höchsten Breiten hin wahrscheinlich auf ein ganz freies Meer.

Um das letztere zu erklären, müssen wir die wissenschaftliche Thatsache vorausschicken, daß die Temperatur-Extreme sich nicht streng nach den Breitegraden richten. Nicht der Erdgleicher ist es, wo die stärkste Hitze herrscht. Das kennt man aus Erfahrungen sehr genau. Der Nordpol ist zwar noch nicht erreicht worden, aber so viel weiß man mit Bestimmtheit, daß die Linie der höchsten Kälte bedeutend südlich von ihm läuft. Man erkennt diese Linie unschwer daran, daß jeder Wind, aus welcher Richtung er auch kommen möge, eine Abnahme der Kälte zur Folge hat. Man hat diese Linie der höchsten Kälte auf der amerikanischen wie auf der asiatischen Seite gefunden. Es ist mithin ein Vorurtheil, daß die Kälte nach dem Nordpol hin beständig zunehmen müßte, so daß, selbst wenn dort oben blos Wasser wäre, der Pol wegen ewiger Eismassen nicht erreicht werden könnte. Das Gegentheil ist der Fall: im amerikanischen Rensselaer-Hafen ist es im Winter wärmer als vier Grad südlicher in M’Clure’s Gnadenbucht, und daß es noch höher im Norden abermals wärmer werde, läßt sich daraus schließen, daß Nordwestwinde Schnee oder Regen mitbringen. Ebenso hat das sibirische Ustjansk wärmere Winter als das um sechs Grade südlichere Jakuzk.

Ist der Nordpol nicht von Land, sondern von Wasser umgeben, so läßt er sich zu Schiff erreichen. Daß die Nordfahrer auf Wasser stoßen werden, dafür sprechen die wichtigsten Momente. Was Menschen mit ihren Augen gesehen haben, schicken wir voran. Eine ganze Reihe von Entdeckern und Seefahrern, Wrangell und Anjou in Asien, Belcher, Inglefield, M’Clintock, Kane und Hayes in Amerika, haben im höchsten Norden ein offenes Meer gefunden. Ein sogenannter Wasserhimmel, d. h. ein dunkler, stets ein offenes Wasser bezeichnender Himmel, deutete ihnen an, daß dieses fahrbare Meer sich in weite Ferne erstrecke. Im Frühling von 1851 machte Capitän Penny, der Franklin suchte, am Wellington-Canal aufwärts eine Schlittenreise. Jenseits einiger Inseln hörte das Eis auf und Penny stand vor offenem Wasser, dem er mit den Augen fünf deutsche Meilen weit gegen Norden folgen konnte. Weit hinten am Horizont erhob sich ein Wasserhimmel. Von Westen kam eine nicht unbedeutende Strömung; Walrosse, die ohne offenes Wasser nicht existiren können, Heerden von Rennthieren, Polarhasen, Wölfe und Füchse und große Schwärme von Enten, Gänsen und anderem Geflügel waren Zeichen eines weit reicheren Thierlebens, als es weiter südlich wahrgenommen wird. Eine noch bedeutsamere Wahrnehmung machte Morton, einer der Begleiter Kane’s, im Juni 1854. Vom Smith-Sunde, wo das Schiff der Amerikaner rettungslos eingefroren war, gegen Norden vordringend, gelangte er an einen Canal, der immer weiter wurde und zu einem offenen Meere führte. An einem steilen Vorgebirge, wo er Halt machen mußte, hörte Morton zum ersten Male wieder das Getöse der Brandung. Sturmvögel, Möven, Eidergänse, Enten und selbst Vögel südlicherer Küsten flogen in unerhörter Menge gegen Norden. So weit Morton sehen konnte, war offene Fahrt, und der heftige Nordwind, der drei Tage lang wehte, trieb kein Eis heran.

Die übrigen Beweise für ein offenes Polarmeer wollen wir blos erwähnen. Herrscht in den Gewässern von Spitzbergen längere Zeit Nordwind, so wird das Meer frei. Der Wind treibt das vorhandene Eis gegen Süden und bringt aus dem Norden keines mit. Die Eismassen, die sich im Winter auf der asiatischen Polarseite bilden, bestehen aus Salzwasser, entstehen also nicht durch Gletscher, sondern im Meere. An sehr vielen Punkten der höchsten Breiten wandern die Rennthierheerden, wenn der Winter naht, gegen Norden. Sie finden dort eine Weide – Kane zählt die einzelnen Pflanzenarten auf – die ohne ein offenes Meer nicht vorhanden sein könnte. Daß der Walfisch ganz oben im Norden seine Jungen gebäre und aufziehe, ist fast mit Gewißheit anzunehmen, und dazu braucht er ein offenes Meer. Für ein solches sprechen endlich Windverhältnisse, für deren Erklärung uns der Raum fehlt, und Meerströmungen, die nicht so breit und mächtig gegen Norden vordringen könnten, wenn sie dort nicht einen weiten freien Raum hätten.

Die Existenz eines offenen Polarmeers durch eine Beschiffung außer Zweifel zu stellen, ist der Hauptzweck der deutschen Nordfahrt. Handelte es sich dabei blos um die Lösung eines geographischen Problems, so wäre dieser Zweck allein der höchsten Anstrengungen werth. Es tritt jedoch auch ein sehr praktisches Anliegen in Frage. Wir hängen Alle so sehr vom Wetter ab, daß wir die Ungewißheit, die in der Wetterkunde herrscht, hundert Mal schmerzlich beklagen. Eine Wissenschaft der Wetterkunde ist in der Ausbildung begriffen, aber die sicheren Grundlagen, deren sie bedarf, kann sie nicht eher erlangen, als bis die Wind- und Meerströmungs-Verhältnisse am Nordpol gründlich erforscht sind, denn von dort her kommen die schlimmsten unserer Winde. In den Polarmeeren muß ferner der Walfischfang betrieben werden, wenn er noch von Nutzen sein soll. Nur zu lange haben wir uns von diesem Zweige der Schifffahrt, der die beste Schule für Seeleute ist, ausschließen lassen. Die deutsche Nordfahrt wird Walfischgründe nachweisen, auf denen die deutsche Handelsflotte das Versäumte nachholen kann. Endlich harren auf der sibirischen Nordküste ungeheuere Elfenbeinlager der Vorzeit einer planmäßigen Ausbeutung. Die Landfracht erschwert das Fortschaffen, durch Dampfschiffe kann der Handel mit Mammuth-Elfenbein vielleicht so gewinnbringend gemacht werden, wie der mit dem Guano der Inseln an der Küste von Peru. Man sieht also, daß die deutsche Nordfahrt nicht blos den Ruhm unseres Namens erhöhen, sondern auch volkswirthschaftlichen Nutzen bringen wird.

F. St…r.



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