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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Gehen Sie doch, Herr Rath, ich werde mit der Gefangenen schon fertig werden.“

„Sie haben Recht,“ sagte dieser nach einigem Nachdenken, indem er seinen Hut wieder in die Hand nahm; „ich kann heute Abend so nichts weiter vornehmen. Sehen Sie, wie Sie mit der Frau fertig werden; üben Sie nur alle Rücksicht, welche die Instruction zuläßt, und wenn Sie noch weiter gehen wollen, so will ich auch das in diesem Falle genehmigen und vertreten. Hoffentlich wird die Dame sich bald erholt haben.“

Die letzten Worte wurden bereits außerhalb des Zimmers gesprochen. Ich wollte den Mann nicht zurückhalten, obwohl ich über die näheren Verhältnisse der Gefangenen, namentlich über den Grund der Verhaftung, gern Auskunft gehabt hätte.

Die Gefangene war während dieser Zeit unverändert liegen geblieben. Als ich nach dem Zimmer zurückkehrte, blieb ich unwillkürlich einige Zeit vor ihr stehen. Ich weiß wirklich nicht, welche Gründe mich hierzu bestimmten, ich weiß nur, daß ich unentschlossen war, in welcher schicklichen Weise ich mich bemühen sollte, das Bewußtsein der Gefangenen zurückzurufen. Daß der Untersuchungsrichter dieselbe „gnädige Frau“ angeredet hatte, machte mir wenig Sorge; mir war jeder Gefangene gleich, alle waren unglücklich, und das Unglück hat überall, auch wenn es verschuldet ist, Anspruch auf Theilnahme. Vielleicht veranlaßten mich nur die ganz eigenthümlichen Umstände, unter welchen die Gefangene mir entgegengetreten war, zu einer mehr als gewöhnlichen Theilnahme. Genug, ich stand einige Zeit unschlüssig vor der leblosen Gestalt.

„Gnädige Frau,“ redete ich dieselbe endlich an, „ich bitte Sie inständigst, machen Sie mir die Erfüllung meines Amtes nicht schwer. Sagen Sie mir vor allen Dingen Ihren Namen.“

Ich bekam keine Antwort.

„Fühlen Sie sich unwohl,“ fuhr ich mit etwas stärkerer Stimme fort, „so haben Sie die Güte mir das zu sagen, ich werde den Arzt herbeirufen lassen.“

Ein fast unmerkliches Zucken der einen Hand, die auf der Brust ruhte, war Alles, was ich wahrnahm.

„Sie wünschen, daß ich den Arzt rufe?“ fragte ich, da ich das Zucken für eine bejahende Bewegung hielt und mir nur Gewißheit verschaffen wollte.

Die Frau blieb regungslos. Ich hätte mit ihr weinen können, wenn sie ihren Kummer, ihr Elend mir mitgetheilt hätte; ihr beharrliches Schweigen ließ mich die Theilnahme vergessen, welche ich ihr hatte bezeigen wollen. Meine Geduld war zu Ende.

„Sie sind Gefangene,“ sagte ich hierauf hart, „vergessen Sie das nicht, so lange Sie in diesem Hause sind. Als solche müssen Sie sprechen, wenn Sie gefragt werden.“

Auch dies hatte keinen Erfolg, ich bekam keine Antwort.

„Jetzt befehle ich Ihnen, daß Sie aufstehen!“ schrie ich in größter Heftigkeit.

Aber auch dies blieb unbeachtet, die Gefangene rührte sich nicht. Das laute, heftige Schreien war in meiner Wohnstube gehört worden. Meine Frau kam zu mir. Sie wußte, daß ich mit der Gefangenen allein war, und hatte geglaubt, daß diese sich renitent zeigen und daß ich Unterstützung nöthig haben möchte. Ich ließ sie eintreten und indem ich nach dem Sopha hinwies, sagte ich ihr, sie möge nachsehen, ob die Gefangene todt sei.

Meine Frau schlug den Schleier, welcher das Gesicht bis zu diesem Augenblicke bedeckt hatte, leise zurück. Kaum war das geschehen, so rief sie laut: „Herr Gott, das ist ja Frau von .ch!“ Ich trat näher hinzu und fand dies bestätigt.

Herr von .ch, ein sehr reicher Grundbesitzer, bewohnte ein etwa zwei Stunden entfernt gelegenes weitläufiges Rittergut. Er war in der Umgegend wegen seiner vielen Eigenheiten bekannt, wegen seines großen Geizes und aus anderen Gründen aber nur wenig geachtet. Seit seiner Verheirathung, also seit ungefähr zwei Jahren, wurde er vielfach lächerlich gemacht. Man sagte, daß er seine Frau auf Schritt und Tritt überwache und daß er dies aus grenzenloser Eifersucht thue. Er selbst war bereits einige fünfzig Jahre alt, ziemlich unschön und stets mit einem widerlichen, hektischen Husten behaftet, während seine Frau kaum dreißig Jahre zählen konnte und für eine interessante Erscheinung gehalten wurde. Von dieser wußte man nur, daß sie aus einer verarmten, altadeligen Familie abstamme und daß sie den Herrn von .ch nur seines Reichthums wegen geheirathet haben solle. Ueber ihre Vergangenheit dagegen war nichts bekannt; ich hatte mehrfach davon sprechen hören, daß dieselbe in ein tiefes Dunkel gehüllt sei und daß beide Ehegatten darüber Schweigen beobachteten. Bemerken muß ich noch, daß ich mich erinnerte, vor einiger Zeit, es mochten etwa vier Monate her sein, in der Zeitung gelesen zu haben, wie Herr von .ch mit einer komischen Feierlichkeit anzeigte, daß ihm ein Sohn und Majoratserbe geboren sei.

Das ist Alles, was mir über die Persönlichkeit meiner Gefangenen bekannt geworden war. Ich fragte mich, was der Grund ihrer Verhaftung sein möchte. Alle bekannten Gesetzesübertretungen traten mir geschwind vor Augen. Es wollte keine passen, keine schien schwer genug zu sein, um die hochgestellte Frau aus ihrer Stellung, die Mutter von dem hülfsbedürftigen Kinde loszureißen. Zuletzt war mir nur noch eine übrig geblieben, die schwerste, die das Strafgesetz kennt: der Mord. Ich wollte mich losreißen von diesem Gedanken, und dennoch schien mir gerade dies Verbrechen genau zu den Verhältnissen der Gefangenen zu passen. Ihre Ehe konnte keine glückliche sein; der alte, häßliche Mann, mit seinen widerlichen, Ekel erregenden Leidenschaften, konnte unmöglich geliebt werden; die Ueberwachung der jungen Frau mußte diese tief verletzen, und gewiß manche Scene zwischen den Gatten hervorrufen. Bis dahin war ich gekommen, als mit meiner Gefangenen eine auffällige Veränderung eintrat.

In dem Moment nämlich, in welchem meine Frau den Schleier zurückschlug, zeigte sich das Gesicht der Gefangenen leichenblaß mit geschlossenen Augen und festzusammengedrückten Lippen. Dieser Druck ließ jedoch bald nach, die Lippen öffneten sich, und auch die Augenlider zogen sich auseinander, aber langsam, als ob die Kraft oder der Wille fehle. Der Blick aus den so geöffneten Augen richtete sich unbeweglich und starr auf mich. Ich konnte denselben schon nach wenigen Secunden nicht mehr ertragen. Es war mir genau ebenso, als ob mich eine Leiche mit gebrochenen Augen anstarrte; ich fühlte dieselbe Beängstigung, dasselbe unheimliche Grauen.

Da mit einem Male belebte sich erst das Auge und dann das ganze Gesicht. Der Blick wurde beweglich, er wendete sich von mir fort und nach der Thür zu, er war nicht mehr starr, nicht mehr ausdruckslos, nicht mehr todt; ich las darin eine ängstliche Aufmerksamkeit, ein freudiges Ergriffensein, es war als ob ein Ereigniß sich verwirklichen sollte, dessen Eintreten vorher nicht für möglich gehalten worden war.

Ich gab mir Mühe, irgend etwas Auffälliges im Zimmer zu entdecken, vermochte jedoch nichts Besonderes wahrzunehmen, namentlich nicht an der Thür, die fest zugemacht worden war. Im Zimmer selbst waltete eine feierliche Stille, nur draußen auf dem Flur oder sonstwo ließen sich das schwache, gedämpfte Schreien eines kleinen Kindes und die Bemühungen hören, welche zur Beruhigung desselben gemacht wurden.

Diese Laute näherten sich, sie wurden von Augenblick zu Augenblick vernehmlicher. Aber auch die Aufmerksamkeit und die Spannung der Gefangenen steigerten sich und wurden zusehends lebendiger. Der Kopf derselben ruhte bald nicht mehr auf dem harten Kissen, er hatte sich gehoben; der Oberkörper nahm nicht mehr die liegende Stellung ein, er hatte sich langsam aufgerichtet; die Muskeln zeigten sich nicht mehr schlaff, sie hatten sich gekräftigt; das Gesicht verlor das leichenähnliche Aussehen, ein mattes Roth färbte die Wangen, beide Arme stützten sich fest und kräftig auf das Polster des Sophas und gaben dem Oberkörper, der sich immer mehr vorn überbeugte, eine feste Stütze.

Die Thür wurde von draußen leise geöffnet, das Schreien des Kindes drang klar und hell durch die Oeffnung in das Zimmer, gleichzeitig aber auch der Ruf: „Madame, bitte, kommen Sie einmal heraus!“

Diese Worte waren noch nicht vollständig gesprochen, als die Gefangene aufsprang und in der Richtung nach der Thür hastig fortlief.

In dem ersten Augenblicke dachte ich nur an einen Fluchtversuch; ich erfaßte deshalb auch die Gefangene, noch ehe sie die Thür erreicht hatte, am Arme und hielt sie zurück.

„Mein Gott,“ sagte diese, als sie sich festgehalten sah, im Tone ängstlicher Besorgniß und indem sie sich loszureißen versuchte, „lassen Sie mich doch gehen, das Kind weint, ich will nachsehen.“

„Bleiben Sie nur,“ erwiderte ich erfreut, daß die Gefangene

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 809. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_809.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2022)