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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

sprach, „das Mädchen kann hereinkommen, die Mutter wird den kleinen Schreihals schon beruhigen.“

„Wie denn?“ rief Frau von .ch, indem sie sich verwundert umsah. „Bin ich nicht in meinem Hause? Wo bin ich denn? Herr Gott!“ schrie sie plötzlich laut auf, daß es mir eiskalt über den Rücken lief. „Jetzt weiß ich’s – ich bin im Gefängnisse!“ setzte sie dumpf hinzu.

„Sie sind noch nicht da, gnädige Frau, ich muß Sie aber dahin bringen,“ versetzte ich, um sie vorzubereiten.

Frau von .ch entgegnete nichts, sie schien meine Erwiderung gar nicht gehört zu haben, sie sah unverwandt nach meiner Frau, welche dem Mädchen das Kind abgenommen hatte und dies liebkoste. Das Kind weinte nicht mehr, es war still geworden, als es sich von den Armen der Mutter umschlungen und an der Brust der Mutter ruhen fühlte.

Ich beobachtete Frau von .ch mit immer höherem Interesse, ich sah, daß ihre Augen feucht wurden, daß es in ihrer Brust gewaltig arbeitete, daß sich aber die Lippen fest zusammenpreßten, als ob sie die innere Bewegung gewaltsam niederdrücken sollten; ich sah, daß die langen, schwarzen Wimpern die Thränen nicht zurückzuhalten vermochten und daß diese endlich in großen, schweren Tropfen herabfielen.

Die Thränen verschafften Linderung, das Arbeiten der Brust hörte auf, der Ausdruck des Gesichts wurde weich.

„Sie sind glücklich, Madame, weil Sie Mutter sein dürfen,“ sagte Frau von .ch mit kleinen Unterbrechungen, als ob sie sich erst auf die Worte besinnen müsse, zu meiner Frau.

„Ach, gnädige Frau,“ enlgegnete diese, „Sie werden auch wieder glücklich werden, Sie können ja nichts Böses gethan haben, Sie werden Ihr liebes Kind wiederfinden.“

„Mein Kind? sagten Sie nicht so?“ fragte die Gefangene; dann setzte sie in größter Betrübniß hinzu: „ich habe kein Kind.“

„Aber die Anzeige in der Zeitung?“ versetzte ich fragend.

„Ist die Frucht einer Lüge. Haben Sie,“ fuhr Frau von .ch in ganz verändertem Tone fort, „in sich noch nie eine Leere gefühlt? Sehen Sie, mir war es so, als ob mir das Herz fehle. Ich hatte das Bewußtsein, daß ich ohne Herz nicht leben könne, daß ich sterben müsse, wenn es mir nicht möglich sein sollte, ein Herz zu finden. Die Thätigkeit meines Geistes war ausschließlich nach diesem Ziele gerichtet, ich dachte an nichts weiter, als an das Aufsuchen und das Auffinden eines Mittels, durch welches ich das zu meinem Leben nothwendige Bedürfniß erlangen wollte. Und als ich endlich ein solches gefunden zu haben glaubte, da war ich unaussprechlich glücklich, denn ich sah den Tod nicht mehr vor mir, ich hatte die Bürgschaft noch für ein langes Leben erworben. Das war der Trieb der Selbsterhaltung. In solchem Zustande behält der Mensch nur das Ziel im Auge, er fragt nicht darnach, ob der Weg gerade oder krumm, ob er geebnet oder holprig ist, wenn er nur zum Ziele führt. Nicht wahr, Sie verstehen mich nicht?“ sagte sie nach einer kleinen Pause, „ich will mich kürzer fassen, ich will deutlicher sprechen. Ich führte in meiner Ehe ein elendes Leben; ich war nichts weiter, als ein Spielzeug in der Hand eines Kindes, das weggeworfen, mitunter auch mit Füßen getreten wird, wenn das Kind des Spielens überdrüssig ist. Als ich mir dessen klar bewußt wurde, da wünschte ich mir eine Seele, in die ich mich hineinleben wollte, die mir Ersatz geben sollte für namenlose Leiden. Mir selbst war jede Aussicht benommen, Mutter einer Seele zu werden, darum kaufte ich eine solche, und der Besitz derselben ließ mich alle Leiden vergessen und alles Elend mit Freudigkeit ertragen. Verstehen Sie das? Es enthält Alles, was ich verschuldet habe; ist denn diese Schuld so gar schwer?“

Frau von .ch machte eine Pause. Ich hatte sie verstanden, wußte, daß es sich um ein Verbrechen handelte, welches das Strafgesetz mit „Unterschiebung eines Kindes“ bezeichnet und mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren bedroht.

Diese Entdeckung bereitete mir auf der einen Seite Freude, denn ich hatte in meine Listen keinen Mord zu verzeichnen, das Uebelste, was mir in meiner Stellung begegnen konnte, auf der anderen Seite machte mich dieselbe aber traurig, denn ich hatte es mit keiner Unschuldigen zu thun, ich mußte die schöne, zarte Frau auf den Aufenthalt im Zuchthause vorbereiten.

Von da ab gab Frau von .ch kurze, doch bestimmte und befriedigende Antworten, sie schien sich ruhig und ergeben in ihr Schicksal zu fügen, wenigstens kam kein Wort der Klage über ihre Lippen. Es war beinahe eilf Uhr geworden, als ich sie bat, mir nach dem Gefängnisse zu folgen. Ich hätte sie so gern die erste Nacht in meiner Wohnung behalten, allein ich durfte es nicht thun, ich setzte mich der Gefahr aus, Amt und Brod zu verlieren.

Frau von .ch folgte ohne Widerstreben. Auch im Gefängnisse war sie ruhig, nur als ich fortgehen wollte und die Laterne bereits in die Hand genommcn hatte, kam sie noch einmal auf mich zu und fragte mich mit zitternder Stimme: „Muß ich denn ohne Licht bleiben?“ und als ich darauf erklärte, daß ich das Licht nicht zurücklassen dürfe, schlug sie beide Hände ineinander und murmelte dumpf vor sich hin: „die erste Nacht, das ist schrecklich!“ Sie trat sodann langsam zurück und setzte sich auf den Rand des Bettes, das ich für sie hatte besorgen lassen.

Ich blieb, nachdem ich die Thür geschlossen, noch einige Zeit vor derselben stehen, die Gefangene verhielt sich jedoch vollständig ruhig. Die Gemüthserregungen hatten sie jedenfalls ermüdet, sie mochte sich nach Ruhe sehnen und diese auch gefunden haben.

Jeder Verbrecher hat für seine That eine Entschuldigung. In der Regel werden „die Verhältnisse“, in welchen derselbe ohne Verschulden sich befunden zu haben vorgiebt, vorgeschoben. Frau von .ch hatte mir gegenüber dasselbe gethan. Sie sagte: mir fehlte das zum Leben eines Menschen nothwendige Herz; der Trieb der Selbsterhaltung mußte das Verbrechen erzeugen. Nun ja, das mochte sein. Sie befand sich aber durchaus in keiner besseren Stellung, als der Dieb, welcher behauptet, nur deshalb gestohlen zu haben, weil er nicht habe verhungern wollen.

Ich wußte es aus unzähligen anderen Fällen, daß diese Art der Entschuldigung vor dem Gericht keine Anerkennung findet und daß deshalb die arme Frau dem Zuchthause nicht entgehen konnte.

Meine Weihnachtsfreude war dahin. Bei der Rückkehr in meine Wohnung kurz vor Mitternacht fand ich Weib und Kinder bereits in tiefem Schlafe.

Ueber das fernere Schicksal der Frau von .ch kann ich nur noch Weniges mittheilen. Sie wurde trotz einer meisterhaften Vertheidigung zu zwei Jahren Zuchthausstrafe verurtheilt, von mir auch in die Strafanstalt abgeliefert. Ueber ihren Verbleib nach der Entlassung aus dem Zuchthause – auf Verwendung mehrerer hochangesehener Damen wurde ihr ein gut Theil der Strafzeit erlassen – ist mir nur bekannt geworden, daß sie jetzt in einer mitteldeutschen Residenz lebt; zu dem Herrn von .ch ist sie nicht zurückgekehrt.

Im Gefängnisse war ihre Führung musterhaft. Sie versicherte wiederholt, daß der Aufenthalt darin noch lange nicht so schrecklich sei, wie das Zusammenleben mit Herrn von .ch, ohne sich jedoch über Einzelnheiten zu verbreiten.




Alpenbilder.
Von Otto Banck.
2. Berge, Pässe und Menschen des Tiroler Aufstandes.

In der letzten Zeit ist die Route zwischen Salzburg und Gastein zu einer wahren politischen Heerstraße, zu einem Touristenweg der Diplomatie geworden; doch so heilkräftig und anregend das Wasser des Wildbades wirkt, so erwies es sich doch nicht stärkend und gesundmachend für die Pläne und Unterhandlungen, die an seinem Quell gepflogen wurden. Die vierspännige Extrapost mit dem lustig blasenden Postillon hat auf dem romantischen Pfade durch den herrlichen Paß Lueg, welcher den Glanzpunkt der von Salzburg nach Gastein führenden Straße bildet, gar manchen staatsmännischen Kopf, das eine und das andere hohe Haupt ebenso rathlos wieder zurückgefahren, als sie angekommen waren.

Vor fast zwei Menschenaltern bewegten sich auf dem nämlichen


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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_810.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2022)