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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

des Tages wenigstens zehnmal die dringende Arbeit stehen ließ, um zu beten … die arme Alte, die durch Wind und Wetter, oft schwer von Rheumatismus geplagt, jeden Sonntag nach Lindhof in die Kirche geht und ein arbeitsvolles, pflichtgetreues Leben hinter sich hat, ein Pfund, das eine lebenslängliche Knierutscherei bei Nichtsthun jedenfalls zehnmal aufwiegt… Auch an mich wagte sich die Moralpredigerin; aber da kam sie an den Rechten – sie hat es bei einem Versuch bewenden lassen. Ich verbot ihr nun den Umgang mit den Leuten auf Lindhof. Das hat mir freilich wenig geholfen; denn jeden unbewachten Moment hat sie benützt, um heimlicher Weise hinüber zu schlüpfen… Von einer Dankbarkeit gegen mich, der ich für sie sorge, ist nicht die Rede; es fehlt jedes innere Band zwischen ihr und mir, und da ist es für mich doppelt schwer, sie zu hüten. Gott mag nun wissen, welche fixe Idee sie in ihrem Kopfe ausgebrütet hat, genug, seit ungefähr zwei Monaten ist sie vollständig stumm, aber nicht allein hier im Hause, sondern gegen alle Menschen. Seit der Zeit ist auch nicht ein Laut über ihre Lippen gekommen. Weder Strenge, noch ruhiges Zureden richten etwas aus. Sie verrichtet ihre Geschäfte nach wie vor, ißt und trinkt wie jeder andere gesunde Mensch und ist auch nicht um ein Jota weniger eitel, als sonst. Weil sie aber ihre rothen Backen verlor und blaß aussah, so befragte ich einen Arzt, der sie schon früher behandelt hatte. Der sagte mir, sie sei körperlich ganz gesund, scheine ihm aber eine höchst exaltirte Person zu sein, und da schon in ihrer Familie Fälle von Geistesstörungen vorgekommen seien, so möchten wir sie ruhig gewähren lassen. Sie würde mit der Zeit des Schweigens selbst überdrüssig werden und eines schönen Tages sprechen wie eine Elster… Nun meinetwegen, ich will’s drauf ankommen lassen; daß ich aber damit ein schweres Opfer bringe, das ist gewiß. Ich habe mein Lebtag keine sauertöpfische Miene um mich leiden mögen und will lieber Salz und Brod essen inmitten fröhlicher Gesichter, als die köstlichsten Leckerbissen bei Duckmäusern. … Na, kleines Goldköpfchen,“ wandte er sich an Elisabeth, in dem er mit der Hand über die Stirn strich, als wolle er alle ärgerlichen Gedanken wegwischen, „schiebe Dein Mütterlein fein säuberlich im Lehnstuhl hierher an den Tisch, binde dem kleinen Kerl da, der sich blind guckt an meinem Gewehrschrank, eine Serviette um den Hals, und nun wollen wir zusammen frühstücken. Dann mögt Ihr Rast halten und die Glieder ein wenig ruhen lassen von der langen Reise. Nach Tische aber geht’s hinauf nach Schloß Gnadeck. Es wird gut thun, wenn Ihr die Augen durch etwas Schlaf vorher stärkt, denn sie möchten Schaden leiden unter all’ dem Glanz, den wir da droben vorfinden werden.“

Nach dem Frühstück, während Vater und Mutter schliefen und der kleine Ernst in einem großen Bett von den Wunderdingen in der Forsthausstube träumte, packte Elisabeth das Nöthigste in der Oberstube aus. Sie hätte um Alles in der Welt nicht schlafen können. Immer wieder trat sie an das Fenster und blickte hinüber nach dem waldigen Berge, der hinter dem Forsthaus emporstieg. Dort oben aus den Baumwipfeln erhob sich ein feiner schwarzer Strich und zeichnete sich scharf von dem tiefblauen Himmel ab. Das war, wie ihr die alte Sabine gesagt hatte, eine uralte Eisenstange auf dem Dach des Schlosses Gnadeck, von welcher in längst versunkenen Zeiten das stolze Banner der Gnadewitze geflattert hatte… Fand sich wohl hinter jenen Bäumen das seit Jahren heißersehnte Asyl, wo die Eltern ihre müden Füße ausruhen konnten vom mühsamen Wandern auf nicht heimischer Erde?

Auch in den Hof fielen ihre suchenden Blicke; aber das stumme Mädchen ließ sich nicht mehr sehen. Sie war auch nicht beim Frühstück erschienen und schien sich vorgenommen zu haben, jede Berührung mit den Gästen zu vermeiden. Das that Elisabeth leid. Die Schilderung des Onkels hatte zwar einen sehr unerquicklichen Eindruck auf sie gemacht, allein ein junges Gemüth giebt seine Illusionen nicht so leicht auf und läßt sich lieber durch das Zerspringen seiner bunten Seifenblasen enttäuschen, als durch die weisen Erfahrungen des Alters… Das schöne Mädchen, das sein Geheimniß so beharrlich hinter den Lippen verschloß, wurde ihr nun doppelt interessant, und sie erschöpfte sich in Vermuthungen über den Grund dieses Schweigens. –

Zur Mittagszeit sah Elisabeth den Onkel aus dem Walde kommen; sie lief ihm entgegen und begrüßte ihn vor der Hausthür. Schon als Kind hatte sie eine große Sympathie für den niegesehenen Försteronkel gehabt, der, als Freunde und Verwandte von den Eltern abfielen, sich als unveränderlich bewährt und nach Kräften sich bemüht hatte, die Thränen der unglücklichen Familie zu trocknen. Nun, als sie ihn vor sich sah, diesen stattlichen, kernfesten Mann, der nicht eine Linie breit abwich von dem Weg, welcher ihm als der rechte galt, und der doch bei all dieser Festigkeit ein zärtlich weiches Gemüth besaß, wenn er es auch unter einem etwas rauh klingenden Humor zu verbergen suchte – ja gewiß, nun empfand sie erst recht eine tiefe, kindliche Verehrung für ihn.

Die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens schien den Onkel sehr angenehm zu überraschen. Er strich liebkosend über ihren Scheitel und nannte sie sein Goldtöchterchen. Sie aber hing sich vergnügt an seinen Arm und brachte ihm drin in der Stube das Hauskäppchen, das er früh bei ihrem Empfang aufgehabt hatte.

Nach dem Essen, das in heiterster Weise verflossen war, holte Sabine eine gestopfte Pfeife vom Eckbret und brachte sie nebst einem brennenden Fidibus dem Oberförster. „Was fällt Dir ein Sabine?“ sagte er abwehrend und mit komischer Entrüstung: „Meinst Du, ich könne es über’s Herz bringen, in aller Ruhe eine Pfeife zu rauchen, während es der kleinen Else da in den Füßen kribbelt und krabbelt, den Berg hinauf zu laufen und die kleine Nase in das Zauberschloß zu stecken? Nein, jetzt meine ich, könnten wir unsere Entdeckungsreise antreten.“

Alles machte sich fertig. Der Oberförster reichte seiner Schwägerin den Arm, und fort ging es durch Hof und Garten. Draußen schloß sich ein Mann der Gesellschaft an; es war ein Maurer aus dem nächsten Dorfe, den der Oberförster bestellt hatte, um nöthigenfalls bei der Hand zu sein.

Es ging ziemlich steil bergauf durch den dichten Wald, auf einem wenig betretenen engen Wege, der sich jedoch allmählich etwas erweiterte und endlich in einen kleinen freien Platz auslief, hinter welchem sich, wie es schien, ein hoher, grauer Felsen erhob.

„Hier habe ich das Vergnügen,“ sagte der Oberförster sarkastisch lächelnd zu dem erstaunten Ferber, „Dir das Vermächtniß des hochseligen Herrn von Gnadewitz in seiner Herrlichkeit vorzustellen.“

Sie standen vor einer ungeheuren Mauer, die allerdings wie ein einziger Granitblock aussah. Von den Gebäuden, die hinter ihr lagen, konnte man schon deshalb keine Spur sehen, weil der Wald sich zu nahe herandrängte und dem Beschauer kein Zurücktreten gestattete. Der Oberförster schritt die Mauer entlang, deren Fuß dichtes Gestrüpp umwob, und machte endlich Halt vor einem mächtigen, eichenen Thor, dessen oberer Theil in ein eisernes Gitter auslief. Hier hatte er Tags zuvor das Gebüsch wegräumen lassen und zog nun einen Bund großer Schlüssel hervor, welche Frau Ferber gestern auf der Durchreise in L. in Empfang genommen hatte.

Es bedurfte bedeutender Anstrengung der drei Männer, ehe die verrosteten Schlösser und Riegel sich öffnen ließen. Endlich drehte sich das Thor krachend in den Angeln und wirbelte eine mächtige Staubwolke in die Höhe. Die Eintretenden befanden sich in einem auf drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Hofraume. Ihnen gegenüber dehnte sich die imposante Fronte des Schlosses, zu dessen erstem Stock von außen eine breite Steintreppe mit schwerfälligem Eisengeländer führte. Längs der Seitenflügel liefen düstere Colonnaden, deren granitne Säulen und Bogen unüberwindlich der Zeit zu trotzen schienen. Inmitten des Hofes breiteten einige alte Kastanien ihre dürftigen Aeste über ein ungeheueres Becken, indessen Mitte vier steinerne Löwen mit aufgesperrten Rachen lagerten. Früher mochten hier vier starke Wasserstrahlen aus den Tiefen der Erde emporgestiegen sein und das Bassin gefüllt haben; jetzt aber floß nur noch ein schwaches Brünnlein durch die dräuenden Zähne des einen Ungeheuers, gerade stark genug, um die naseweisen Grashalme zwischen den Steinritzen des Beckens zu bespritzen und durch sein leises, melancholisches Rieseln einen schwachen Schein von Leben in die Wüstenei zu hauchen. Die äußeren Mauern der Gebäude und die Säulengänge waren das Einzige in diesem Raum, an welchem der Blick ohne Angst haften konnte. Die aller Glasscheiben beraubten Fensterhöhlen zeigten eine gräuliche Verwüstung im Innern. In einigen Zimmern waren die Decken bereits eingestürzt, in anderen bogen sich die Balken hernieder, als wollten sie bei der leisesten Berührung zusammenbrechen. Die äußere Treppe hing drohend halb in der Luft; einige schwere grünbemooste Steine hatten sich bereits gelöst und waren bis zur Mitte des Hofes gerollt.

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_020.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)