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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

er suchte seine Opfer und hatte sie bald gefunden, denn die ihm besonders bezeichneten hatten schon ihre Sitze eingenommen. Die engelschönen Gesichter der Frau von St. Amaranthe und der Marquise von Chastenais übergoß die Flamme der Kerzen mit rothem Lichte. Sie verlieh ihnen ein überirdisches Aussehen, denn durch das Halbdunkel strahlten die schönen Augen in einer Art von Verzückung. Sénart stieß einen leisen Ruf der Genugthuung aus, er schien seiner Opfer gewiß. Quesvremont und Sartines standen hinter den Damen. Die übrigen Anwesenden, jedem Stande zugehörend, theils elegant, theils zerlumpt gekleidet, saßen auf den Sitzen oder kauerten an den Wänden umher. Neuer Glockenschlag. Ein Vorhang hinter den drei Stühlen theilt sich. Von zwei Frauen geführt erscheint Katharine Theot, die „Mutter Gottes“. Ihre Gestalt ist lang, trocken, man könnte sie durchsichtig nennen. Graues, aschfarbenes Haar hängt um ihr Haupt, ihre Augen sind blitzend, ihr Knochenbau ist stark. Einen peinlichen und zugleich grauenhaften Anblick bieten die Hände der „Mutter Gottes“, denn sie sind wie die eines Skeletes und befinden sich in fortwährender fieberhaft zitternder Bewegung.

„Kinder Gottes,“ ruft sie, „Eure Mutter ist unter Euch; ich will die Ungläubigen reinigen.“ Jetzt geht ein Jeder der Anwesenden zu ihr und küßt ihre Stirn, sie legt die Hand auf das Haupt des vor ihr Stehenden und sagt: „Freunde meines Sohnes, ich grüße Euch.“

Dom Gerle tritt in den Saal. Alle erheben sich und neigen die Häupter. Er setzt sich auf den rothen Stuhl, die „Mutter Gottes“ läßt sich auf den weißen nieder. „Freunde des Herrn, vereinigen wir uns,“ ruft Dom Gerle. Die Mutter öffnet ein großes Buch. Sénart hatte während dieser Zeit Muße genug, die beiden Führerinnen der alten Theot zu betrachten. Die Eine hieß die „Sängerin“, die Andere die „Taube“. Die Taube war eine der schönsten, jugendlichen Erscheinungen, wie sie sich eines Künstlers Phantasie nicht vollendeter gestalten konnte, ihr edles Gesicht mit den herrlichsten blauen Augen umfloß goldiges, üppiges Haar; die Figur, im schönsten Ebenmaße gebaut, zierte ein rothes Gewand, das die weißen Arme und den Nacken einer Venus erblicken ließ. Die Untersuchung hat ergeben, daß die „Taube“ von den Leitern des Bundes dazu ausersehen war, nach dem Tode der alten Mutter, durch eine geschickte Taschenspielerei, als die wiedergeborne jugendliche „Katharine Theot“ zu gelten.

Der Augenblick der Katastrophe nahte heran. Dom Gerle rief: „Es sind Profane hier. Sie sollen die Weihe empfangen. Brüder und Schwestern, helfet ihnen.“

Briot stieß den Agenten vor. „Achtung!“ flüsterte er. Sénart trat in den Kreis und stand der Mutter Gottes gegenüber. Seine Augen irrten zwischen den halbgeöffneten Wimpern umher, und da er bei verschiedenen Anwesenden Säbel oder Degen gewahrte, fuhr seine Hand unwillkürlich unter die Carmagnole und umklammerte den Schaft des Pistols.

„Sprich den Eidschwur, Mann: „Ich will mit Waffen, Wort und That den Ruhm des höchsten Wesens durch die Welt tragen,“„ rief Dom Gerle. „Hebe Deine Hand.“

Sénart hob die Hand. „Ich schwöre.“

„Gelobe Gehorsam der Mutter Gottes.“

„Ich schwöre.“

„Gelobe, Dich den Dienern des Propheten zu unterwerfen.“

„Ich schwöre.“

Nun begann die Mutter ein Capitel der Offenbarung St. Johannis, das Buch mit den sieben Siegeln, erklärend vorzulesen. „Fünf Siegel sind gehoben,“ rief sie. „Ich soll das sechste lösen. Wenn das siebente bricht, ist die Neugeburt der Erde vollendet. Alle sterben, nur die Kinder der Mutter Gottes nicht. Dieses sind die Namen der sieben Siegel: das erste ist das Wort, das zweite die Gleichheit der Stände, das dritte die Revolution, das vierte der Tod der Ungläubigen, das fünfte die Brüderschaft aller Völker, das sechste der Kampf des Erzengels, das siebente die Neugeburt aller Erwählten.“

Sénart hatte während dieser Erklärung die prüfenden Blicke Dom Gerle’s auszuhalten, er fühlte, wie gefährlich das Spiel wurde. Immer lauter tönten die dumpfen Rufe der Versammelten, es schien dem Agenten, als bereite sich eine Ekstase gleich der orientalischer Mönche, tanzender oder drehender Derwische vor. Dom Gerle führte ihn zur Mutter Gottes, die ihm mit den Worten: „Mein Sohn, ich nehme Dich auf unter die Erleuchteten, Du bist unsterblich,“ auf Stirn, Ohren, Augen, Backen und Mund Küsse drückte. Er mußte der Mutter diese Ceremonie wiederholen, dann sprach sie: „Die Gnade ist ausgegossen auf Deine Lippen,“ und als ob die Erde einstürzen sollte, erhob sich ein furchtbares Geschrei: „Die Gnade ist da! Die Gnade ist da!“ Diese Worte riefen alle Anwesenden. Dom Gerle machte mit dem Finger einige Zeichen über dem Kopfe Sénart’s, dann brachte man eine silberne Schüssel herbei und wusch die Hände des Aufgenommenen. Immer lauter ward das Geschrei, und als Sénart sich in die Reihe der Brüder setzte, erblickte er die wunderlichsten Geberden, Drehungen und Situationen. Einige lagen auf den Knieen, Andere hatten das Haupt hintenüber gebeugt und sendeten Gebete empor, dann warfen sich gewisse Schwärmer auf den Boden, wieder Andere umarmten sich und sangen. Diese Scene ward endlich geordnet durch einen Gesang, den die „Taube“ und die „Sängerin“ anstimmten und an welchem die ganze Gemeinde Theil nahm.

Sénart hielt jetzt den entscheidenden Augenblick für gekommen, er rückte immer näher einem kleinen Fenster, welches, wie er sich überzeugt hatte, auf die Straße führte.

„Du bist unruhig, neuer Bruder,“ sagte ein gelbaussehender Schwärmer.

„Ich leide noch unter dem Eindruck des Gewaltigen,“ entgegnete Sénart.

Briot kauerte sich in die Ecke, er zitterte. Sein Leben war ebenso bedroht wie Sénart’s. Dieser Agent war bis zu dem Fenster gekommen. „Eine stickende Hitze,“ sagte er. „Oeffnen wir.“ Der Sänger, dem er dies zuflüsterte, hatte keine Antwort, er war dem Irdischen abgewendet. Schnell fuhr die Hand des Agenten in die Seitentasche der Carmagnole, dann hielt er sie zum Fenster hinaus, ein Stein fiel auf das Pflaster der Gasse. Vor dem Hause ward es lebendig. Oben schwieg der Gesang. Sénart war hinter den Sitzen entlang gegangen und hatte an der Ausgangsthüre Posten gefaßt. Ein zweiter Neophyte trat in den Kreis, die Aufnahme sollte wieder beginnen. „Es sind Profane hier!“ rief wieder Dom Gerle. „Sie –“

„Sollen nicht die Weihe empfangen,“ brüllte plötzlich eine Stimme, und mit vorgehaltenen Pistolen sprang Sénart in den Kreis. Die Versammlung blieb vor Schreck und Entsetzen einen Augenblick stumm, dann rannte schreiend und heulend Alles durcheinander.

„Verrath!“ schrie es von allen Seiten. „Werft Euch auf ihn.“ Die Frauen kreischten, Katharine Theot stand auf dem Sessel und feuerte die Menge an. „Es ist der Drache von Babel! Würge ihn, Volk des Herrn.“

Sénart hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, als der ganze Schwarm, Einige mit blitzender Waffe, auf ihn zudrängte. „Zurück!“ schrie er. „Ich schieße den Ersten, der es wagt, Hand an den Diener der Republik zu legen, durch den Kopf.“

„Würgt ihn!“ rief Dom Gerle. „Ich stehe für Alles.“

„Haltet!“ rief Herr von Quesvremont. Seiner Stimme gab man Gehör, Alles wich zurück, ein Augenblick der Ruhe trat ein, den Sénart geschickt benützte. Im Nu hatte er eine silberne Pfeife an den Mund gesetzt und ihr schrillender Ton drang durch die Räume. Ein Hurrahruf von unten her antwortete.

„Er hat Genossen, Schergen in der Nähe!“ riefen die Bundesglieder. „Gebt ihm mindestens seinen Lohn.“

„Wer hat ihn hergebracht?“ schrie ein Rasender.

„Briot, der Psalmist,“ antworteten zwanzig Stimmen. Briot’s Stunde hatte geschlagen. Sénart sah plötzlich die Menge von ihm sich wenden, gegen die Ecke des Saales drängen, er sah einen fürchterlichen Knäuel, eine Anzahl erhobener Fäuste, er hörte Gebrüll, Schimpfreden, dann einen durchdringenden Schrei. Als er ertönte, fiel krachend die Thür in Trümmer, und Sénart’s Genossen stürmten herbei.

„Im Namen des Wohlfahrtsausschusses!“ rief der Agent, „Ihr seid meine Gefangenen.“ Er hob das Papier in die Höhe. „Vaudry, Lecourbe, nehmt die Bürgerinnen St. Amaranthe und Chastenais, sowie den Alten dort und Sartines, den Blonden da hinten, auf Euch.“

„Es ist Robespierre’s Hand,“ flüsterte die Marquise.

„Fluch dem Mörder!“ murmelte Quesvremont.

„Die ‚Mutter Gottes‘, die ‚Taube‘ und die ‚Sängerin‘ escortire ich. Vorwärts!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_027.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)