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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

die Honneurs am Theetisch und entwickelte dabei die allerdings nicht wegzuleugnende Gabe, das Gespräch in Athem zu erhalten. Mit bewunderungswürdigem Geschick wußte sie es außerdem einzurichten, daß Helene stets der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten blieb, ohne daß die Anderen dadurch irgendwie hätten verletzt werden können.

Frau von Lehr erzählte sehr viel und machte jedesmal beim Schlusse irgend einer empörenden Neuigkeit von der Sündhaftigkeit der Weltkinder eine Miene, als trage sie als Lamm die Sünde der Menschheit auf ihrem Rücken. Welch ein Contrast zwischen ihr und Helenens Madonnengesichtchen, über dessen Jugend heute ein ganz besonderer Schimmer zu liegen schien! Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht, aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen, und um die blaßrothen Lippen spielte ein entzücktes Lächeln, so oft sie das volle Rosenbouquet vom Schooße aufnahm, das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte. Er saß neben ihr und mischte sich einigemal in das Gespräch. Sobald er sprach, schwiegen sämmtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu, obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und, wie es Elisabeth vorkam, auch durchaus keinen originellen Gedanken verrieth.

Er war ein schöner, junger Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen, die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit und Charakterstärke hätten schließen lassen; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte, dem imponirte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr. Diese Augen, obgleich groß und tadellos geschnitten, entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten, das uns oft den geistreichen Menschen verräth, selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat. Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden, dauerhaften Glanz, der von einem tiefen Gemüth ausgeht und der uns nicht hinreißt, wohl aber anzieht und fesselt. Aber auch davon verriethen die großen, schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur.

Diese Beobachtung indeß machten vielleicht nur sehr Wenige; denn es war nun einmal, und zwar vorzüglich am Hofe zu L., hergebracht, in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen, dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe, und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben. Das bewies vor Allen Frau von Lehr’s sehr corpulente Tochter, indem sie sich jedesmal, als gälte es die Verkündigung eines Evangeliums, über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog, so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat. Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen.

„Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten, mit denen uns Herr Candidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat?“ fragte sie, sich an Elisabeth wendend.

„Ich bedaure, sie nicht gehört zu haben,“ entgegnete Elisabeth.

„So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht?“

„O ja … Ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof.“

„So,“ sagte die Baronin Lessen, indem sie zum ersten Male den Kopf nach Elisabeth umwandte, wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam, „und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof?“

„Gewiß, gnädige Frau,“ entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame. „Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers, der übrigens nicht in der Kirche, sondern außerhalb derselben, unter den Eichen, seinen Vortrag hielt. … Als der Gottesdienst beginnen sollte, da stellte es sich heraus, daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne. Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet, wie es schon oft geschehen sein soll. Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen, als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll und der ehrwürdige, alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob, genau so zu Muthe, wie da ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte.“

„Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtniß zu haben, mein Fräulein,“ warf hier Frau von Lehr ein. „Wie alt waren Sie damals, wenn man fragen darf?“

„Elf Jahre.“

„Elf Jahre? .… O, mein Gott, wie ist das möglich?“ rief die alte Dame entsetzt. „Können das christliche Eltern wohl über’s Herz bringen? … Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit, das müssen Sie mir bezeugen, bester Doctor!“

„Ja wohl, meine Gnädigste,“ entgegnete dieser ernst. „Ich erinnere mich, daß Sie den Croup-Anfall, an welchem sie leider Ihr Jahr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten, einem Besuch des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben.“

Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an. Der Doctor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt, als er hie und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute, die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren, als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte. Als Elisabeth selbst zu sprechen begann, hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet, ebensowenig wie die Anderen, die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten; deshalb bemerkte Niemand, daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimüthigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden. Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort; aber er mußte wohl seine Leute kennen, denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll: „Ja, der Herr nahm den kleinen, frommen Engel zu sich, er war zu gut für diese Welt. .… Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen?“ wandte sie sich wieder an Elisabeth.

„Nur sein Tempel, gnädige Frau … Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christenthums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren, denn ich weiß nicht, daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein … Es ist meines Vaters Grundsatz, seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen; er meint, so junge Seelen seien unfähig, die hohe Bedeutung desselben zu verstehen, langweilten sich bei der Predigt, die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten, und so entstünde von vorn herein eine saloppe Anschauung … Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche.“

„O der glückliche Vater,“ rief der Doctor, „daß er dies durchführen kann und darf!“

„Nun, was hindert Sie, Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen?“ fragte malitiös die Baronin.

„Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen, gnädige Frau. Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug, einen Hauslehrer für sie zu halten. Sie selbst zu unterrichten, daran hindert mich mein Beruf; mithin bin ich gezwungen, sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen und das Bibellesen. In Kinderhände aber gehört die Bibel wahrhaftig nicht.“

Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung. Auf ihren blassen, vollen Wangen waren allmählich zwei rothe Flecken aufgeblüht, welche für Alle, die sie kannten, das Zeichen inneren Zornes waren. Deshalb stand auch Fräulein von Walde, die sich während des ganzen Gespräches passiv verhalten hatte, sofort auf, bot ihrer Cousine den Arm und führte sie an’s Fenster, indem sie fragte, ob es ihr wohl genehm sei, wenn sie mit Elisabeth ein wenig musicire.

Dieser Blitzableiter wurde zwar mit einem Kopfnicken bewilligt, aber die Baronin zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend, auf die sich die ersten, leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten. Ihr Blick zeigte einen kalt-grausamen Ausdruck, wie er jener gewissen Art wasserblauer, hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann. Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel, ein Zeuge tiefen Grolles, der auch nicht verschwand, als Schubert’s Erlkönig, zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen, in dämonischer Gewalt erbrauste. An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne, wie der Wellengesang am Uferfelsen.

Als der letzte Accord verklungen war, erhoben sich die beiden Damen, und der Doctor, der regungslos zugehört hatte, eilte auf sie zu. Sein Auge glänzte; er dankte begeistert für den Genuß,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_082.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)