Seite:Die Gartenlaube (1866) 131.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

ist eingestürzt; die Wucht der Trümmer hat den Plafond der kleinen Kirche tief niedergesenkt, so daß man meint, er müsse bei der leisesten Luftschwingung herniederstürzen. Der Erker ist erst in den letzten Wochen so hinfällig geworden, und zwar in Folge mehrerer Gewitterstürme. Er muß entfernt werden, weil uns sonst ein Theil des Gartens unzugänglich bleibt. Hätte ich Arbeiter bekommen können, so wäre er schon abgetragen.“

Nach dieser Schilderung verspürte Reinhard, wie er sich ausdrückte, weiter keinen Appetit, in den Ruinen umherzuwandeln. Desto mehr interessirte ihn aber der Zwischenbau, und auf diese Aeußerung hin erhob sich Ferber, um seinen Gästen die Wohnung zu zeigen. Zuerst aber wurde der hinter ihnen liegende Damm bestiegen. Ferber war sehr geschickt und thätig, er benutzte jede freie Stunde zur Verschönerung seines neuen Besitzthums. Die Stufen, die auf die Höhe des Dammes führten, hatte er eigenhändig ausgebessert, sie hoben sich jetzt weiß und glatt von der geschorenen Rasendecke ab, welche duftig grün die Schrägseite des Erdaufwurfes bedeckte. Droben das ziemlich breite Plateau war mit frischem Kies bestreut, und in der Mitte desselben, dicht vor dem Gezweig der Linden, die sich unten über dem Bassin wölbten, stand eine Gruppe selbstgezimmerter weißer Gartenmöbel.

Man ging in das Haus. Oben an der Treppe kam Bella auf Miß Mertens zugelaufen; sie hatte in der einen Hand verschiedene Bilderbücher und mit der anderen zog sie ihre Gouvernante in Elisabeth’s Zimmer.

„Denken Sie sich, Miß Mertens, hier oben sieht man doch unser Schloß!“ rief sie. Der Begriff vom Eigenthumsrecht in dieser Richtung hin saß fest in ihrem Köpfchen; kein Wunder, die Art und Weise, wie die Mama das Scepter bisher geführt hatte, ließen ja selbst die Erwachsenen nicht im Zweifel, daß sie sich als die unumschränkte Herrin in Lindhof ansehe. „Sehen Sie dort unten den Weg?“ fuhr Bella lebhaft fort, „da ist eben Onkel Rudolph vorübergeritten. Er hat mich erkannt und mir mit der Hand zugewinkt, die Mama wird froh sein, daß er wieder gut mit mir ist.“

Miß Mertens ermahnte sie, nun aber auch hübsch artig zu bleiben, jetzt aber Hut und Mantel zu holen, denn es sei Zeit aufzubrechen.

Elisabeth und Ernst begleiteten sie bis in den Park.

„Wir haben uns zu lange aufgehalten,“ bemerkte Miß Mertens mit besorgtem Gesicht, als sie am Mauerpförtchen von Ferbers Abschied genommen hatte und heraus auf die Waldblöße trat. „Ich mache mich für heute noch auf Sturm und böses Wetter gefaßt.“

„Sie meinen, die Baronin werde ungehalten sein über Ihr langes Ausbleiben?“

„Ohne Zweifel.“

„Nun, lassen Sie sich dies trotz alledem nicht reuen .… Wir haben jedenfalls einen reizenden Nachmittag verlebt,“ meinte Reinhard heiter.

Die Kinder waren Hand in Hand vorausgegangen und verschwanden hie und da seitwärts im Gebüsch, um Blumen zu suchen. Hector, der seinem Herrn untreu geworden war und sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, sprang lustig mit ihnen hin und her, wobei er jedoch nicht unterließ, dann und wann zu Elisabeth – der Dame seines Herzens, wie der Onkel immer sagte – zurückzukehren, um sich den Kopf streicheln zu lassen.

Plötzlich stutzte er und blieb mitten im Wege stehen. Man war bereits in der Nähe des Parkes; durch das Gebüsch schimmerte das leuchtende Grün der Rasenflächen herauf und das Plätschern der nächsten Fontaine wurde hörbar. Hector hatte etwas entdeckt und das war eine weibliche Gestalt, die mit hastigen Schritten den Hinabwandelnden entgegenkam. Elisabeth erkannte sie sogleich als die stumme Bertha, obgleich ihr die ganze Erscheinung merkwürdig verändert erschien.

Das junge Mädchen mußte keine Ahnung von der Nähe Anderer haben, denn sie gesticulirte im Weiterschreiten heftig mit den Armen; eine dunkle Röthe bedeckte ihre Wangen, die Augenbrauen waren wie im tiefsten Seelenschmerz zusammengezogen, und die Lippen bewegten sich im leisen Selbstgespräch. Das weiße, blumengeschmückte Hütchen war von den Flechten herabgesunken und hing mittels der Bänder am Halse, infolge der heftigen Bewegungen jedoch lösten sich auch diese und es fiel auf den Boden, ohne daß die Eigenthümerin es bemerkte.

Sie lief vorwärts, und erst in dem Augenblick, als sie dicht vor Elisabeth stand, schlug sie die Augen auf. Entsetzt, als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie zurück. In dem Moment aber auch verwandelte sich ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck in den der tiefsten Erbitterung. Ihre Augen sprühten Haß, die Hände ballten sich krampfhaft, während ein zischender Laut über ihre Lippen glitt, es sah aus, als wolle sie sich wüthend auf das junge Mädchen stürzen … Reinhard stand sofort neben Elisabeth und zog sie einen Schritt zurück. Als Bertha ihn erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte blindlings in das Gebüsch, durch welches sie sich gewaltsam Bahn brach, obgleich ihre Kleider an den Dornen hängen blieben und niederhängende Aeste gegen ihre Stirne schlugen … in wenig Augenblicken war sie im Dickicht verschwunden.

„Das war ja die Bertha aus dem Forsthause!?“ rief Miß Mertens erstaunt. „Was muß ihr geschehen sein?“

„Ja, was mag vorgefallen sein?“ wiederholte Reinhard. „Die junge Person war in einer furchtbaren Aufregung, schien aber erst in die höchste Wuth zu gerathen bei Ihrem Anblick,“ wandte er sich an Elisabeth. „Sie ist Ihnen verwandt?“

„Eigentlich nicht,“ entgegnete das junge Mädchen, „denn sie steht nicht einmal meinem Onkel in dieser Beziehung sehr nahe. Ebensowenig ist sie mir bekannt. Sie hat meine Nähe vom Anfang an consequent gemieden, obgleich ich einen freundschaftlichen Verkehr mit ihr eine Zeit lang sehr gewünscht habe … Es ist klar, daß sie mich haßt, aber ich weiß nicht, weshalb; das müßte mich eigentlich betrüben, allein ihr Charakter gefällt mir zu wenig, als daß ich einen besonderen Werth auf ihre Gesinnung gegen mich legen möchte.“

„Zum Henker auch, Kindchen, da ist nicht allein mehr von Gesinnung die Rede! … Die kleine Furie hätte Sie am liebsten mit den Zähnen zerrissen.“

„Ich fürchte mich nicht vor ihr,“ erwiderte Elisabeth lächelnd.

„Nun, ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht rathen,“ meinte Miß Mertens. „Die kleine Person hat etwas Dämonisches in ihrer Erscheinung … wo mochte sie nur herkommen?“

„Allem Anschein nach aus dem Schlosse,“ bemerkte Elisabeth, indem sie Bertha’s Hut aufhob und einige dürre Blätter und Moose von den Klatschrosen abstreifte.

„Das glaube ich nicht,“ entgegnete Miß Mertens. „Seit sie stumm ist, hat sie merkwürdiger Weise auch ihre Besuche in Lindhof eingestellt … Sie war früher täglich im Schlosse, wohnte den Bibelstunden bei und hatte bei der Baronin einen großen Stein im Bret. … Das Alles hat plötzlich ein Ende genommen, ohne daß irgend Jemand sagen kann, weshalb. Nur dann und wann habe ich sie auf meinen einsamen Spaziergängen durch den Park schlüpfen sehen, flink wie eine Schlange, und für mich ebenso unheimlich wie alle Reptilien.“

Die Sprechenden hatten bereits den ersten mit Kies bestreuten Parkpfad betreten, es war Zeit zum Abschied, der von Besuchern und Besuchten auf das Herzlichste genommen wurde.

„Höre, Else,“ sagte Ernst, als die andern Drei hinter dem nächsten Bosquet verschwunden waren, „wir wollen doch einmal sehen, wer von uns Beiden zuerst dort an der Ecke sein wird.“ Diese Ecke war die Mündung eines schmalen Waldweges, der sich an dem Fuß des Berges hinzog.

„Gut, mein Junge!“ lachte Elisabeth und begann zu laufen. Anfangs hielt sie Schritt mit den Beinchen, die tapfer nebenher trippelten und sich mühten, ihr den Vorsprung abzugewinnen; in der Nähe des Zieles jedoch flog sie, um den Kleinen zu necken, wie eine Feder vorwärts und stand mit einem Schritt mitten im Waldweg, zu ihrem Schrecken aber auch dicht vor einem Pferdekopf, der sie heftig anschnaubte. Hector, welcher nebenher gelaufen war, erhob ein lautes Gebell … Das Pferd machte einen furchtbaren Satz nach rückwärts und stand in einem Nu fast kerzengerade auf den Hinterbeinen.

„Zurück!“ rief eine gewaltige Stimme. Elisabeth umfaßte den Knaben, der inzwischen herangekommen war, und sprang seitwärts mit ihm; fast in demselben Moment stürzte das Pferd aus dem Walde hervor und brauste, mit seinen Hufen kaum die Erde berührend, querfeldein … Herr von Walde ritt das scheu gewordene Thier, das die gewaltigsten Anstrengungen machte, seinen Reiter abzuwerfen; aber er saß fest wie eine Mauer, nur einmal bog er sich herab und hieb mit der Gerte nach Hector, der in tollen

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_131.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)