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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Sprüngen auf- und abjagte und das Pferd durch sein Gebell immer wilder machte. Eine Weile zerstampfte der Renner den großen Rasenplatz, dann wendete er sich plötzlich seitwärts und verschwand jenseits im Walde.

Elisabeth fühlte, wie ihr die Zähne zusammenschlugen in namenloser Angst, denn nun zweifelte sie keinen Augenblick mehr, daß ein Unglück geschehen müsse. Sie nahm Ernst bei der Hand und wollte nach dem Schlosse laufen, um Hülfe zu holen, allein schon nach wenigen Schritten sah sie den Reiter zurückkehren. Das Thier war ruhiger, der Schaum floß vom Gebiß und Elisabeth sah, wie die Beine des Pferdes zitterten. Herr von Walde klopfte es liebkosend auf den Hals, sprang herab und band es an einen Baum, dann schritt er auf Elisabeth zu.

„Verzeihen Sie!“ sagte das junge Mädchen mit bebender Stimme, als er vor ihr stand.

„Was denn, mein Kind?“. entgegnete er mild. „Sie haben ja nichts verbrochen … Kommen Sie, setzen Sie sich ein wenig hier auf die Bank … Sie haben sich erschreckt und sind todtenblaß geworden.“

Er machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand ergreifen und sie führen, aber sein Arm sank sogleich wieder herab. Elisabeth folgte mechanisch seinem Geheiß, er setzte sich ohne Weiteres neben sie. Der kleine Ernst lehnte sich an seine Schwester und sah Herrn von Walde mit seinen großen, schönen Augen unverwandt in’s Gesicht. Der Kleine war nur einen Moment erschrocken gewesen, als das Pferd unvermuthet aus dem Walde hervorkam; das Umherjagen auf der Wiese aber hatte ihn amüsirt, denn er hatte keine Ahnung von der Gefahr.

„Was hatten Sie vor, als Sie vorhin so stürmisch in den Wald einzudringen versuchten?“ fragte Herr von Walde Elisabeth nach einem kurzen Schweigen.

Ein schelmisches Lächeln schwebte um die noch immer blassen Lippen des jungen Mädchens. „Ich wurde verfolgt,“ antwortete sie.

„Von wem?“

„Von diesem hier,“ sie zeigte auf Ernst; „wir sind um die Wette gelaufen.“

„Ist der Kleine Ihr Bruder?“

„Ja.“ Sie sah dem Knaben zärtlich in’s Gesicht und strich mit der Hand über seinen dunkeln Lockenkopf.

„Und sie ist meine einzige Schwester,“ bemerkte der Kleine mit großem Nachdruck.

„So – nun, wie es scheint, verträgst Du Dich sehr gut mit dieser einzigen Schwester?“ sagte Herr von Walde.

„O ja, ich habe sie sehr lieb .… sie spielt mit mir, gerade wie ein Junge.“

„Wirklich?“ frug Herr von Walde.

„Wenn ich exerciren will, dann setzt sie einen ebensolchen Papierhut auf, wie sie mir einen macht, und trommelt durch den Garten, so lange ich will. Vorm Schlafengehen erzählt sie mir Geschichten und streicht mir auch die Butterbrode viel dicker als Mama.“

Ein heiteres Lächeln glitt über Herrn von Walde’s Gesicht. Elisabeth sah es zum ersten Male und fand, daß es seine Züge, deren tiefen Ernst sie für unverwischbar gehalten hatte, unbeschreiblich anziehend machte … es kam ihr vor, wie der klare Sonnenglanz, der unerwartet über einen wolkendüsteren Himmel hinfliegt.

„Du hast Recht, mein Junge,“ sagte er und zog den Kleinen zu sich hinüber, „das sind ohne Zweifel anerkennenswerthe Eigenschaften; aber wird sie nie böse?“ fragte er weiter, indem er auf Elisabeth zeigte, die wie ein Kind lachte, denn Ernst’s Mittheilungen erschienen ihr urkomisch.

„Nein, böse niemals,“ antwortete der Knabe, „nur ernsthaft manchmal, und da spielt sie immer Clavier.“

„Aber, Ernst …“

„O ja, Else,“ fiel ihr der Kleine eifrig in’s Wort, „weißt Du noch, in B., wo wir so arm waren?“

„Nun, da magst Du freilich Recht haben,“ erwiderte das junge Mädchen unbefangen, „aber das war doch nur in der Zeit, wo Papa und Mama allein sich abmühen und für das tägliche Brod arbeiten mußten, später wurde es ja besser.“

„Aber Sie spielen noch Clavier?“

„Ja,“ entgegnete Elisabeth lachend, „jedoch nicht mehr in dem Sinn, wie Ernst es meint, die Meinen sind ja versorgt.“

„Und Sie?“ forschte Herr von Walde weiter.

„Nun, ich? Ich habe den Muth, es mit dem Leben aufzunehmen und ihm das abzuringen, was zu meiner Selbstständigkeit nöthig ist.“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Ich werde im nächsten Jahr eine Stelle als Erzieherin annehmen.

„Schreckt Sie Miß Mertens’ Beispiel nicht zurück?“

„Ganz und gar nicht… Ich bin nicht so schwach, ein müheloses Brod zu wünschen, wo ich Tausende in meinen Verhältnissen muthig die Last der Dienstbarkeit auf sich nehmen sehe.“

„Hier handelt es sich aber nicht allein um die Arbeit, sondern auch um das Ertragen und Dulden… Sie sind stolz; nicht allein Ihr Gesicht in diesem Augenblick, sondern auch Ihre gestern ausgesprochenen Ansichten beweisen es.“

„Nun ja, es mag Stolz sein, daß ich die Menschenwürde höher stelle, als jene Aeußerlichkeiten, die der Egoismus erfunden hat und aufrecht erhält – aber eben deshalb glaube ich auch, daß ein Mensch den anderen nur insofern demüthigen kann, als er moralisch und geistig hochstehend ihm unerreichbar erscheint – niemals aber durch erniedrigende Behandlung.“

„Und Sie glauben sich durch diese Ansicht gestählt gegen alle jene großen und kleinen Leiden, die eine launenhafte, herzlose Herrin über Sie verhängen kann?“

„O nein, aber ich werde mit ihr den Kopf oben behalten.“

Es entstand eine kleine Pause, während welcher Ernst sich dem Pferd näherte und dasselbe mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.

„Aus Ihren gestrigen Reden schloß ich, daß Sie Ihre jetzige Heimath lieben,“ begann Herr von Walde wieder.

„Ja, unbeschreiblich.“

„Nun, ich begreife das; denn wir haben hier das schönste Stück Thüringens… Wie ist es Ihnen dann aber möglich, den Gedanken so leicht zu nehmen, daß Sie wieder gehen müssen?“

„Leicht wird er mir auch durchaus nicht, im Gegentheil, aber mein Vater hat mich gelehrt, daß man stets das Nothwendige über die Annehmlichkeit stellen müsse, und das begreife ich vollkommen … weniger klar dagegen ist es mir, wie man die Annehmlichkeit verlassen kann, ohne daß es die Nothwendigkeit gebietet.“

„Ah, das gilt mir! … Sie fassen es nicht, daß ein Mensch freiwillig in den dumpfen Pyramiden steckt, während er im kühlen, sonnigen Thüringen athmen könnte.“

Elisabeth fühlte, wie ihr eine brennende Röthe in das Gesicht stieg. Herr von Walde berührte hier mit leichtem Humor jenes scherzhafte Gespräch zwischen ihr und dein Onkel, dessen unfreiwilliger Zuhörer er gewesen war.

„Wenn ich Ihnen das auch begreiflich machen wollte, Sie würden mich doch nicht verstehen; denn wie mir scheint, vermissen Sie ja noch nichts im Kreise der Ihrigen?“ fragte er nach kurzem Schweigen. Er hatte sich vorwärts geneigt und strich mechanisch mit der Spitze der Reitgerte über den Kies zu seinen Füßen… Er sprach in jenen tiefen Tönen, die stets etwas Ergreifendes für Elisabeth hatten. „Aber es kommt eine Zeit,“ fuhr er fort, „da flieht man hinaus in die Welt, um draußen zu vergessen, daß daheim das Glück fehlt… Eine schmerzlich empfundene Lücke in seinem Dasein kann der Mann, wenn auch nicht ausfüllen, so doch am besten in den Hintergrund drängen, wenn er sich in die Wissenschaft versenkt.“

Also hier stand sie vor der wunden Stelle in seinem Herzen. … Er fühlte tief, daß ihn daheim die Liebe nicht empfing, die er lebhaft wünschte und die er auch mit vollstem Recht beanspruchen konnte, da er seiner Schwester die reinste, aufopferndste Zärtlichkeit unausgesetzt bewies. Diesen Schmerz hatte ja Elisabeth schon begriffen, noch bevor sie Herrn von Walde kannte. In dem Augenblick aber, als er ihn so unumwunden aussprach, wallte ihr das Herz auf in dem lebhaften Verlangen, ihn zu trösten. Die Worte des Mitgefühls drängten sich ihr fast auf die Lippen; aber zugleich empfand sie eine unerklärliche Scheu, das auszusprechen, was sie bewegte, und als ihr Blick seitwärts streifte über die festen Linien seines Profils, über die Stirn, die gebieterisch und stolz blieb, während die Stimme weich und trauervoll klang, da kam ihr plötzlich die beängstigende Vermuthung, er habe einen Moment vergessen, wer neben ihm sitze, sein aristokratisches Gefühl werde

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_132.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)