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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Geländer ihre Schrecken verloren und der Felsen an den Grands-Mulets, unter dessen Abhang man sonst die Nacht verbringen mußte, trägt jetzt eine aus Steinen aufgeführte, mit Bretern gedeckte, sieben Fuß breite, zwanzig Fuß lange Hütte, in der sich zwei Glasfenster und ein eiserner Ofen befinden, wo es sich denn ganz behaglich übernachten läßt. Ein humoristischer Engländer, der hier vor einigen Jahren auch ein kostbar gebundenes Fremdenbuch stiftete, hat dieser Hütte sogar den allerdings etwas allzu stolz-euphemistischen Namen „Hôtel impérial des Grands-Mulets“ gegeben. Die Natur selbst scheint die Ersteigung des Montblanc bedeutend erleichtern zu wollen, denn manche Thalgletscher, wie z. B. die früher so sehr gefürchteten Bossonsgletscher, sind bedeutend geschmolzen und gesunken, so daß ihre einst so drohenden Eisspalten jetzt nur noch eine geringe Gefahr bieten. Andrerseits haben sich die Kosten bedeutend gemindert und Dr. Piachaud aus Genf gebrauchte bei einer Besteigung im Jahre 1864 Summa Summarum zweihundert und fünfzig Franken, ohne sich irgend einen Comfort zu versagen. Seiner Beschreibung, die in vieler Hinsicht als mustergültig anzusehen ist, entnehmen wir den nachfolgenden gedrängten Auszug.

Die beiden Reisenden, Dr. Piachaud und der tüchtige Genfer Landschaftsmaler Loppé, der außer den Führern von allen Sterblichen wohl schon am häufigsten auf dem Montblanc war – „es ist nur ein Spaziergang,“ pflegt er zu sagen – traten am 27. Juli 1864 um acht Uhr Morgens ihre Wanderung von Chamounix aus an. Sie hatten vier Führer, zwei für jede Person, und einen Packträger bei sich, was vollkommen genügt. Für den ersten Tag ist ein gewöhnlicher Reiseanzug der geeignetste; für den zweiten muß man warme Winterkleider haben, welche der Packträger bis zu den Grands-Mulets trägt. Ebenso dürfen starke, nägelbeschlagene Gebirgsschuhe nicht fehlen. Für das Gesicht dient eine Maske aus weißem Leinen zum Schutz gegen die stechenden Sonnenstrahlen; die Augen werden durch eine blaue Brille gegen den blendenden Schnee gewaffnet.

Von Chamounix geht der Weg zunächst durch ein anmuthiges Tannen- und Lärchengehölz, dann über den wildrauschenden Bergbach Dard und hierauf einen steilen Abhang hinan bis zu der Pierre Pointue in etwa zwei und einer halben Stunde. Dort findet sich eine kleine Schenke, welche von der Frau eines Führers gehalten wird und von wo aus man den ganzen Bossonsgletscher von seinem Ursprung an dem großen Plateau bis zu seinem Ende gegen das Chamounixthal übersehen kann. Bis zu der Pierre à l’Echelle, einem breiten Felsen, steigt man dann zwischen Rhododendren und einer noch üppigen Alpenvegetation in ein und einer halben Stunde hinauf. Der Felsen hat seinen Namen von den Leitern, welche man oft bei den Gletscherübergängen nöthig hat und welche hier unter einem Steinvorsprung aufbewahrt werden. Hier verläßt man, wie unser Reisender sich ausdrückt, das feste Land, um von nun an, wie es unsere Abbildung zeigt, nur auf Schnee und Eis weiter zu schreiten. Bei dem Uebergang über den Gletscher bieten die von der benachbarten Aiguille du Midi von Zeit zu Zeit mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel herabrollenden Steine manche Gefahren. Von dem Punkt an, wo der Bossonsgletscher sich mit dem Taconnygletscher vereinigt, mehren sich die Spalten, welche man jetzt jedoch unter der Leitung geschickter Führer meistens zu umgehen weiß. Gegen vier Uhr Nachmittags langten die Reisenden an der oben beschriebenen Hütte an den Grands-Mulets, etwa dreitausend Meter über dem Meer, an, wo sich eine herrliche Aussicht über die nächstgelegenen Alpenspitzen, dieses ganze Chaos hervorragender Hörner, Felsenzacken und Schneefelder, weiter über die niederen Ketten des Chablais bis zum blauen Leman darbietet. Dr. Piachaud kann diese Excursion zu den Grands-Mulets allen Reisenden, welche den vollen Genuß einer Hochalpenwanderung haben wollen, aber eine Besteigung des Montblanc selbst fürchten, nicht genug empfehlen.

Während die Führer das Abendessen im „Hotel Impérial“ bereiteten, zeichnete Loppé, auf einem etwas höher gelegenen Gletscher sitzend, einige Studien in sein Skizzenbuch und Dr. Piachaud sah sich unter der „magern Flora“ dieser Einöde um. Großartig stellte sich endlich der Sonnenuntergang ein. Als die Sonne hinter der bläulichen Jurakette verschwunden war und tief unten das Chamounixthal schon im dunkelsten Schatten lag, zeigten sich alle benachbarten Alpengipfel noch im flammendsten Purpur, bis auch sie endlich, der Montblancgipfel zuletzt, sich in jene bleierne Todtenfarbe hüllten, welche erst mit dem Morgenroth wieder verschwindet. Die Reisenden suchten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse Thee erwärmt, ihr selbstbereitetes Lager in dem Karawanserai, wo inzwischen noch eine Schaar Engländer eingetroffen war. Diese brachen mit ihren Führern schon eine halbe Stunde nach Mitternacht auf, während unsere Reisenden erst um zwei ein halb Uhr ihre Wanderung antraten, nachdem sie sich noch durch eine Tasse warmen Weins zu ihrem beschwerlichen Tagewerk gestärkt hatten. Beim Schein einer Laterne wird der Gletscher betreten und nun wird die „cérémonie de la corde“ vorgenommen, d. h. die Verbindung der Wanderer durch ein starkes Seil. Diese Maßregel ist unerläßlich, ihre Vernachlässigung hat schon eine Menge Unglücksfälle herbeigeführt, so noch kurz vor der Reise des Dr. Piachaud den Tod eines jungen Mannes aus Chamounix selbst.

Nach dreistündigem Marsch langten die Wanderer in einer Höhe von zwölftausend Fuß am Anfang des sogenannten Grand-Plateau an, wo ein kleiner Halt gemacht wurde, um eine Erfrischung einzunehmen, obwohl in dieser Höhe schon wenig Appetit vorhanden ist. Um so großartiger ist das Naturschauspiel, welches sich hier darbietet: man befindet sich, wie Piachaud sagt, gewissermaßen in einem ungeheueren Circus, der ringsum von den riesigen Gipfeln Dôme du Goûté, Bosse du Dromédaire, dem eigentlichen Montblancgipfel, Corridor, Mont-Maudit und Montblanc du Tacul umragt wird, welche den Himmel mit ihren majestätischen Spitzen zu tragen scheinen. Hinter dem letztgenannten Berg trat gerade die Sonne hervor, als die Reisenden anlangten.

Von dem bezeichneten Punkt führen drei Wege zum Montblancgipfel. Der erste ist der, welchen Saussure einschlug und auf welchem später die Katastrophe bei der Expedition des Dr. Hamel sich ereignete; dieser Weg wird schon seit langer Zeit wegen der durch Lawinen drohenden Gefahren nicht mehr betreten. Der zweite Weg über den Dôme du Goûté und les Bosses du Dromédaire, obwohl ihn 1861 mehrere Engländer glücklich zurücklegten, ist gleichfalls außerordentlich beschwerlich. Der dritte Weg, den auch unsere Reisenden einschlugen, ist der weiteste, aber bequemste und sicherste. Nach drei Viertelstunden langten die Reisenden am Corridor an, einem breiten Schneeabhange zwischen dem Mont-Maudit und den Rochers-Rouges. Im Profil des Montblanc, wie man es von Genf aus sieht und mit demjenigen Napoleon’s des Ersten verglichen hat, bildet dieser Theil die Lippen, die unteren Rochers-Rouges die Nase, die oberen das Auge, die Calotte das „welthistorische Hütchen“. Große Schwierigkeit bietet die Ersteigung einer steilen einhundertfünfzig Meter hohen Schneemauer, welche den Namen Mur de la Côte erhalten hat; hier müssen Stufen in den harten Schnee gehauen werden, und die Reisenden brauchten drei Viertelstunden, sie zu erklimmen. Dann aber sind auch alle wirklichen Gefahren überstanden; dagegen stellen sich jetzt die Einflüsse des Luftmangels, erschwerter Athem, Schläfrigkeit, Muthlosigkeit in hohem Grade ein. Piachaud fühlte sie dermaßen, daß er nicht weiter gehen zu können glaubte und fast nur mit Gewalt fortgebracht werden konnte. Endlich um neun ein halb Uhr setzten die Reisenden den Fuß auf den höchsten Gipfel, einen von West nach Ost streichenden Grat, den Piachaud der Gestalt nach mit einem Eselsrücken vergleicht. Das erste, was die Reisenden hier fanden, war die „Visitenkarte“ der bereits vor ihnen hinaufgestiegenen jungen Engländer: zwei Champagnerflaschen, welche hier zu leeren eine geheiligte Sitte unter allen britischen Montblancbesteigern ist. Die Aussicht, welche sich den Reisenden darbot, war im Süden durch Nebel beschränkt, um so unermeßlicher gegen Osten, Norden und Westen: alle Alpenketten Savoyens, des Wallis, des Berner Oberlandes, der Jura und die weiten Länderstrecken, welche sich an diese Gebirge reihen, lagen zu ihren Füßen. Das erste moralische Gefühl, welches sich Piachaud’s hier oben bemächtigte, war das der Befriedigung, alle Schwierigkeiten glücklich überwunden zu haben: „ein Beweis,“ meint er, „daß wir sehr zu dieser Art von Stolz geneigt sind, selbst wenn wir auch unmittelbar vorher unsere Schwäche haben kennen lernen.“ Der hervorstechendste physische Eindruck war der der Kälte, sonst war alles Uebelbefinden verschwunden. Wegen dieser durch heftigen Wind vermehrten Kälte drangen die Führer darauf, nach zwanzig Minuten den Rückweg anzutreten. Er wurde glücklich zurückgelegt, obgleich das Hinabsteigen des Mur de la Côte noch größere Schwierigkeiten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_142.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)