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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

reichen sich Morgen- und Abendland da die Hände! Schaulust und Speculation, Wanderkunst und einförmigste Betriebsamkeit, Frömmigkeit und Bettelei – Alles findet hier seinen gedeihlichen Boden, und der Platz ist groß genug, um durch dies Alles mitten durch seinen ungehinderten Gang zu gehen. Ständige Gestalten des Marcusplatzes sind, neben den unvermeidlichen Geistlichen und Soldaten, die Stiefelputzer mit ihrem Wichskasten, die mitunter nebenbei noch andere Geschäftchen, wie Handel mit kleinen Schmucksachen, Schildkröten und dergleichen treiben, ferner die Blumenmädchen und die Wasserverkäuferinnen mit ihren blanken kupfernen Eimern am schwanken Joch; den reisenden Engländer mit Familie und den deutschen Handwerksburschen mit Knotenstock trifft man dort meist in vielen Exemplaren; gebildete Reisende mit begeisterten Augen veredeln die Gruppen und die bunten Trachten der Dalmatiner, Griechen, Türken und noch fernerer Völker von Morgen her bringen Leben in das Farbenspiel. Declamatoren sind jetzt seltener, dagegen Sänger und Sängerinnen zu Guitarre und Harfe so häufig zu finden, wie auf der Leipziger Messe. Und wo Musik erklingt, da bildet sich bald ein Kreis von Matrosen und Fischern, denen der barfüßige Gondler sich als Fachgenosse anschließt. Auch das Puppentheater findet sein theilnehmendes Publicum, und wenn am Abend ein Musikchor Posto faßt, so verwandelt sich leicht der Reihengang der Lustwandelnden in eine Riesenpolonaise, auf welche Hunderte von Gasflammen vor und in den tageshellen Arcaden herüberleuchten und Tausende von Sternen von der Decke des Himmels herniederschauen.

So stand das Friedensbild des Marcusplatzes vor nun elf Jahren mir vor Augen. Seitdem sind abermals Ströme von Blut geflossen, um das Losungswort des Kampfs „Frei bis zur Adria“ für Italien zur Wahrheit zu machen. Abermals gingen sieben Jahre dahin, die in dem Verhältniß Venedigs zu Oesterreich nichts veränderten, als eine Steigerung des Hasses bis zum gerüttelt vollen Maße, und heute steht ganz Italien in Waffen und ruft: Krieg um Venedig!

So ist denn der alten Lagunenkönigin der Kampfharnisch wieder angezogen und die Sturmhaube auf die grauen Locken gesetzt worden. Die an sich offene Stadt ist umringt von Forts und Batterien. – Muß wirklich der Krieg das Loos werfen, werden Nationen zur Schlachtbank geführt, um zu entscheiden, ob die Dogenstadt den Lorbeer oder die Kette tragen soll, sicherlich wird dann diesmal das Schicksal ein strenges Gericht halten. Die blauen Tauben werden auch diesmal ihre Körner picken, aber die Kugeln, welche die Stadt des heiligen Marcus erschüttern, könnten leicht einem Adler die Krone beugen. Fr. Hfm.     




Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.


Vor jetzt einem Jahre ist ein Verein in’s Leben getreten, der mit Recht als ein deutscher sich bezeichnet, unter die besten Errungenschaften unserer Tage zu zählen ist und sicher einer reichen Zukunft entgegen geht. Es ist die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die am 29. Mai des verflossenen Jahres zu Kiel begründet wurde.

Die Gartenlaube hat oftmals ernst und dringend für das Rettungswesen an den deutschen Küsten ihre Stimme erhoben. Wenig glänzend waren die Aussichten für dasselbe, als wir 1861 unseren ersten „Mahnruf an das deutsche Volk“ erließen, aber wir haben nicht verzagt; eine neue Aera stand ihm bevor, als im vorigen Jahre in unserem Blatte jener Mahnruf wiederholt wurde, und die Hoffnungen, die wir damals aussprachen, sind nicht getäuscht worden.

Lange Zeit hat es gedauert, bis wir Deutsche daran dachten, die einhundertachtzig Meilen langen Seegrenzen unseres Vaterlandes mit tüchtigen Rüstzeugen zur Rettung aus Seegefahr zu versehen; Jahrzehnte lang konnten wir in England, Holland und selbst Dänemark die Segnungen erkennen, die ein gutgehandhabtes Rettungswesen der Seefahrt bringt; wir wußten es, daß unsere Küsten mit ihren Watten und Riffen zum großen Theil äußerst gefahrvoll sind; wir wußten es, daß an ihnen eine ungemein lebhafte Schifffahrtsbewegung herrscht, wie sie der Verkehr der drittgrößten Handelsmarine der Welt mit sich bringt; wir lasen von Seeunfällen, Strandungen, Schiffbrüchen, als gehe es uns nichts an. Erst in diesem Jahrzehnte fielen uns die Schuppen von den Augen.

Die furchtbaren Stürme des Jahres 1860 brachten in dem kleinen Bremischen Hafenorte Vegesack – der fast nur von Schifferfamilien bewohnt wird und eine Zahl Wittwen und Waisen beherbergt, wie wohl kein anderes deutsches Städtchen – einige Männer auf den Gedanken, daß doch auch an den deutschen Küsten Rettungsboote und Rettungsgeschosse aufzustellen seien; sie empfanden es, daß das deutsche Volk, dem seine Meere heilige Rechte verleihen und heilige Pflichten auferlegen, nicht zurückstehen dürfe gegen andere Völker; sie erkannten, wie es eine nationale Sache sei, dafür zu sorgen, daß an den Seegrenzen Deutschlands die erste Pflicht der Menschlichkeit erfüllt werde, und wiesen für die Ausführung dieses Gedankens auf England hin, wo unter der Beihülfe des Staates ein großer, die ganze Nation umfassender Verein mit dem glänzendsten Erfolge der Erfüllung jener Pflicht sich widme.

Freilich fand der im November des Jahres 1860 von jenem Weserstädtchen aus erlassene Aufruf manche Sympathie, freilich stimmte ihm die vierte Versammlung der wirthschaftlichen Gesellschaft für das nordwestliche Deutschland (Februar 1861) darin bei, daß das Rettungswesen an den deutschen Küsten eine nationale, vom Volke selbst in’s Werk zu setzende Angelegenheit sei: allein es gelang nicht eine der nationalen Sache angemessene einheitliche Organisation zu schaffen. Für die ostfriesischen Küsten bildete sich im März jenes Jahres ein besonderer Verein; in Hamburg trat ein Comité zusammen, das selbständig für die Elbmündung zu sorgen gedachte und im August einen neuen Sonderverein begründete; von Bremerhaven aus suchte man zu gleicher Zeit einen eigenen Verein für die Unterweser in’s Leben zu rufen, was nicht gelang; es fehlte jede Einigung in den Bestrebungen, jede Verwirklichung des nationalen Momentes, das in dem Unternehmen hätte leben müssen. So waren die Aussichten nicht sehr erfreulich, als unser erster Mahnruf an das deutsche Volk erging.[1]

Als dann im April 1863 auch in Bremen ein Sonderverein entstand, schien selbst auf diesem Gebiete die unselige deutsche Zerrissenheit feste Wurzeln geschlagen zu haben. Allein vom Bremischen Vereine wurde der ursprüngliche Gedanke, das Unternehmen als ein nationales zu erfassen, nicht aufgegeben. Schon Englands Beispiel mußte lehren, daß das See-Rettungswesen, wenn es mit Nachdruck und mit Erfolg gehandhabt werden sollte, als eine nationale Sache einheitlich organisirt werden müsse, denn auch dort hatte die Rettungsangelegenheit erst ihre volle Entwickelung gefunden, als mit dem Jahr 1854 die einzelnen Rettungsvereine, die bis dahin bestanden hatten, sich zu einem Centralverein verbanden und damit die ganze Nation für die Sache gewannen.

In Deutschland konnte die Zersplitterung noch viel größere Gefahren bereiten; hier fehlte noch eine weitverbreitete Theilnahme für alle maritimen Interessen, wie sie sich in England stets gezeigt hat. Hier war somit die Gefahr da, daß ein Fortgehen auf dem betretenen Wege das junge Unternehmen jeder Aussicht auf größere Erfolge beraube. So begann denn von Bremen aus auf’s Neue die Anregung, das deutsche See-Rettungswesen einheitlich im nationalen Sinne zu organisiren, ein Vorhaben, das von unserem Blatte sofort freudig begrüßt wurde.[2] Es kam glücklich dahin, daß auf Grund einer vom Bremischen Rettungsvereine ausgegangenen Einladung am 29. Mai v. J. zu Kiel eine Versammlung aller Freunde des Rettungswesens an Deutschlands Küsten zusammentrat. Es war hohe Zeit, an eine Einigung zu denken; denn schon waren in Kiel, Lübeck und Rostock, in Stettin und Danzig neue Sondervereine gebildet oder in der Begründung begriffen; schon hatten die älteren Sondervereine ihre völlige Selbstständigkeit so lieb gewonnen, daß sie über dieselbe das allgemeine Interesse zu vergessen anfingen. Das begonnene Werk gelang; am 29. Mai wurde die deutsche Gesellschaft gestiftet, obwohl die Vereine von Emden und Hamburg ihren Beitritt weigerten. Zu Kiel wurde also endlich das erreicht, was auf diesem Gebiete seit 1860 angestrebt

  1. Siehe Gartenlaube 1861 Nr. 51.
  2. Vergl. Gartenlaube 1865 Nr. 23.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_343.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2021)