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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

und ein mehrere hundert Fuß tiefer Ziehbrunnen, der jetzt nicht mehr benutzt wird. Während Gritli ihre Eimer voll laufen ließ, öffnete sich das Fenster des Pächterhauses und wer herausschaute, war der Herzog, den das Unwetter auf einem Ritt zur Jagd überrascht hatte und der hier untergetreten war. Gritli stand vom Fenster abgewandt, und erst auf die Ansprache: „Was machst Du denn da? Du wirst ja ganz naß!“ kehrte sie sich dem Fürsten zu, der nun ihr blasses, abgehärmtes Gesicht sah und sie fragte: „Was fehlt Dir? Bist Du krank?“ – „Ach nein, Durchlaucht, mir fehlt nichts.“ Und damit eilte sie fort. Daheim erzählte sie sie mir dies Begegniß und fügte noch hinzu: “Ich habe gelacht und habe gesagt, es fehlt mir nichts.“ Indem ich sie dabei scharf ansah, wurde sie bald roth, bald blaß und ein Fieber begann sie zu schütteln. Sie folgte meinem Rathe, sich zu Bett zu begeben, die Wärme half ihrer an sich gesunden Natur nach, und als sie sich am Abend wieder wohler fühlte, kam zum ersten Male ein Geständniß über ihre Lippen. Sie seufzte: „Ach, es giebt so viele reiche Leute. Wenn die nur wüßten, wie es denen zu Muth ist, die ihre Wünsche nicht befriedigen können und dürfen!“ – „Was hast Du denn für einen Wunsch? Sage es mir, Gritli! Du weißt, wie gern ich Dir jeden Wunsch erfülle, wenn es nur irgend angeht!“ Mit dieser Frage mußte ich die wunde Stelle berührt haben. Ein starres Ansehen war die Antwort – und dann ein Thränenstrom, der nicht enden wollte, so daß auch ich meines Leidens kein Ende wußte.

Schon am nächsten Morgen kam der Kammerdiener, jener Schweizer, den ich oben erwähnte, zu mir auf die Veste, offenbar im Auftrag des Herzogs, denn nach allerlei Hin- und Herreden sagte er, wie im Vorbeigehen: „Ja so, lieber Landsmann (wir nannten uns so, meiner schweizerischen Frau wegen), gestern war der Herzog hier oben und hat Ihre Frau so leidend aussehend gefunden. Er möchte wissen, was ihr fehle und ob Sie seiner Hülfe bedürften?“

„Was meiner Frau fehlt? Ja, wenn ich das wüßte!“ Ich erzählte ihm Alles, was ich beobachtet hatte. Sein Gesicht wurde immer bedenklicher, und als ich geendet hatte, sagte er:

„Landsmann, Ihre Frau hat das Heimweh im höchsten Grade! Trösten Sie sie, es wird sie beruhigen, wenn Sie ihr die Versicherung geben, daß der Herzog ihre Wünsche erfüllen werde.“

Das Heimweh! Ich war erschreckt und erstaunt zugleich, daß so etwas einer Menschenseele so fürchterlich zusetzen könne. Halb im Unglauben dachte ich doch, es würde für Gritli das Beruhigendste sein, wenn ich ihr des Kammerdieners Auftrag einfach mittheilte. Hatte ich denn eine Ahnung davon, wie das eine Wort auf das kranke Herz wirke?

Meine Frau kam von einem Ausgang heim. Freudig eilte ich ihr entgegen und sagte: „Du, Gritli, der Kammerdiener war da und hat sich im Auftrag des Herzogs erkundigt, warum Du so blaß aussähest, und Dein Landsmann hat gemeint, Du hättest das Heimweh – –“

Wie von einem Blitz getroffen, stürzte sie zusammen und wälzte sich auf dem Boden, weinend und lachend durcheinander und schrie dazwischen gräßlich: „Hahaha – Heimweh! Heimweh! Ich weiß es nicht, weiß es nicht – hahaha – in die Heimath will ich wieder!“ Und Lachen und Schreien und Weinen – und nicht vom Boden auf – stundenlang! Jammernd, bittend und zitternd an allen Gliedern, stand ich da und konnte nicht helfen, bis endlich die Gewalt des Seelensturms sich selbst ausgetobt hatte. Erst dann ward sie meinen Versicherungen zugänglich, daß sie sicherlich in die liebe Heimath reisen solle. Aber an Ruhe war nicht zu denken, die Rinde des Schweigens war gelöst, die ganze Nacht redete und erzählte sie von der Heimath und von den Gräbern ihrer Mutter und ihres Vaters und von ihren Geschwistern und wie dort Alles, Alles besser sei, das Land und die Menschen und Alles!

Tags darauf ward ich in’s Residenzschloß beschieden. Der Herzog fragte mich, ob ich mit meinem Gehalt ausreiche, ob vielleicht Nahrungssorgen auf meiner Frau gelastet. Ich mußte offen und dankbar bekennen, daß wir bisher glücklich und zufrieden gelebt. „Dann,“ sagte der edle Fürst, „ist es wirklich nur das Heimweh, das Deine Frau, krank gemacht hat, und da muß rasch geholfen werden. Ich will Euch Beide in die Schweiz reisen lassen, denn allein darf Deine Frau in ihrem jetzigen Zustand nicht sein. Sage das Deiner Frau. Ich habe diese Leute nicht aus ihren Bergen herauskommen lassen, daß sie hier unglücklich sein sollen.“

Wie ich diesmal den Berg zur Veste hinaufkam, weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß ich von heißem Dank, ja von Begeisterung erfüllt war für meinen Herzog, der für den einfachen, niedern Mann ein Herz voll theilnehmender Menschenliebe hatte. Und als ich meiner Gritli die Botschaft verkündete: „In acht Tagen können wir reisen, Du und ich, in Deine Heimath!“ – da schlug sie vor Freude die Hände zusammen und umschlang mich und rief: „Ach, der liebe Herr, wie gut der ist, – aber, Christian, Du darfst nicht mit! Allein muß ich sein, und sollte ich zu Fuß gehen – Du darfst nicht mit!

Kein Warum und kein Bitten änderte ihren Sinn, alles Zureden wies sie mit dem entschiedenen Ausspruch zurück: „Ich muß allein sein!“ Ich kann nicht verschweigen, daß, nach dem vielen Bittern, das ich im Verlauf dieser Krankheit ertragen, mich dieses Letzte am tiefsten schmerzte, weil es mir wie Lieblosigkeit, ja wie Widerwillen gegen mich erschien. Indeß ließ ich mich gern belehren, daß sich damit eben nur ein neuer Zug der entsetzlichen Krankheit äußere, der mit der Krankheit selbst verschwinden werde.

Der Herzog gestattete ihr nun die Reise mit der Post, und das war für die kranke, schwache Frau ein schweres Unternehmen, denn während jetzt Eisenbahn und Dampfschiff uns in einem Tage von unserer Residenzstadt bis in die Schweiz tragen, nahm dies damals sieben volle Tage und sieben Nächte in Anspruch. So, kam’s denn – und zwar Mitte des sehr strengen December – zur Abreise und zur letzten schmerzlichen Aeußerung der Krankheit: Gritli schied von mir und von unsern Kindern so gleichgültig, als ob sie nur in die nächste Nachbarschaft ginge. Mit banger Sorge blickte ich dem abfahrenden Wagen nach, meine arme Frau war zum Skelet abgezehrt; Gottes Hand mußte sie führen, wenn sie ihre Heimath und uns wiedersehen sollte.

Fünf Wochen vergingen; ich erhielt keine Nachricht in dieser für mich so peinlichen Zeit. Aber – meine Gritli kam selbst! Fünf Wochen – und welche Wandelung! Wieder kerngesund und stark, mit lebenstrahlenden Augen trat sie bei uns ein. Die Kinder wollten nicht glauben, daß das ihre Mutter sei, und ich konnte mich vor freudigem Staunen kaum fassen: sie war ganz wieder „das kleine, schwarze Ding“ geworden, ganz wieder Bernerin in Tracht und Sprache, und ganz wieder das frische Herz voll der alten, treuen Liebe.

„Da hast Du mich wieder, Du guter, herziger Mann, und Ihr, liebe Kinder! Ich war gegen Dich garstig und nachlässig gegen Euch, aber nun werde ich Dir wieder die gute Frau und Euch die treue, sorgende Mutter sein.“ Das war ihr Gruß, und nun konnte sie mit Ruhe über ihre Krankheit sprechen, ja sie hielt jetzt eine möglichst offene und klare Darlegung ihres damaligen Zustandes für ihre Pflicht, um all der Angst und des Kummers willen, die sie mir gemacht.

„Was habe ich erlebt!“ rief sie aus. „O Heimweh, du fürchterliches Wort! Und kein Schweizerherz ist vor ihm sicher, ob es noch so viel Liebe erfährt und ob’s ihm noch so gut geht in der Fremde. Als es so nach und nach über mich kam, war es anfangs nur Sehnsucht, aber dann wurde es Zorn über Alles, was mich umgab. Mein Verstand sah ein, daß ich Euch und Andern Unrecht that, aber das Herz besaß nur noch so viel Widerstandskraft, daß ich mich Euch gegenüber wenigstens nur gleichgültig zeigte. Wäre mir nicht geholfen worden durch die Heimathreise, so stehe ich nicht davor, selbst gegen Euch, mein Liebstes auf der Welt, wär’ noch der Groll Herr geworden. Es war die höchste Zeit, daß ich gerettet wurde.

Und warum Du nicht mit mir reisen durftest? Das war keine Lieblosigkeit, sondern Scheu, beobachtet zu werden in meinem Wesen, Scheu vor irgend einer Bemerkung über meine Geschwister, die Dir hätte entschlüpfen können, – und ich wußte ja nicht, wie ich dann gegen Dich werden würde. Als es überstanden war, bereute ich’s tausend Mal, daß Du nicht mit mir die Herrlichkeiten der Heimath sehen konntest. Ueberstanden war es aber erst, als in einer Nacht der Conducteur (ich hatte ihn jeden Tag ein paar Mal gefragt: sind wir noch immer nicht an der Schweizergrenze?) mir zurief: ‚Hier ist Schweizerboden!‘ Da sprang ich aus dem Wagen und kniete hin und küßte die Heimatherde. – Und dann noch mehr in Zürich, wo Alles schweizerisch sprach und Jedes mir

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