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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der mich aus Böhmen hierher brachte.“ Kurz, die Summe der Leiden, von denen diese sämmtlich nicht schwer Verwundeten zu erzählen hatten, war schon so groß, daß für das Maß des ganzen entsetzlichen Menschenelends, das vom Schlachtfeld bis zum Lazareth sich hinzieht, uns die Kraft der Auffassung abgeht.

Zwei große Mängel haben sich in den menschenfressenden Gefechten und Schlachten dieses mit so außerordentlich „vervollkommneten Waffen“ ausgerüsteten Krieges herausgestellt: der Mangel an helfenden Händen für das Bergen und erste Verbinden der Verwundeten, und der ebenso schwer zu beklagende Mangel an rohem Eis, durch welch letzteren die Zahl der durch Amputationen erzeugten Krüppel in’s wahrhaft Unglaubliche vermehrt worden ist. Wären die Turner (und die ebenfalls fahnenführenden Sängerschaaren) als freiwillige Retter den Heeren gefolgt und hätten Alle dann ihre Schuldigkeit mit demselben Heldenmuth gethan, wie bei Langensalza und Merxleben die braven Turner von Gotha und den Nachbarstädten, so würden viel edle Menschenleben dem Vaterlande und ihren Lieben erhalten worden sein.

Unsere Leser begleiten uns nun in einige Lazarethe. In Leipzig sind gegenwärtig deren vier eingerichtet: im neuen Gebäude des Waisenhauses, in der neuen großen Turnhalle, in dem ebenfalls neuen und großen Gebäude der fünften Bürgerschule (das Bild derselben brachte die Gartenlaube 1865, in Nr. 21) und in dem bisherigen königlich sächsischen Militär-Hospital zwischen Gohlis und Leipzig. Zu einem etwa nöthigen fünften ist das große Armenhaus ausersehen.

Wir wenden uns zuerst zum Waisenhause. Auf der Hochebene jenseits des sogenannten Johannisthals, einer langgestreckten Thalmulde, die ganz von kleinen, freundlich gepflegten, mit Lusthäuschen und Lauben geschmückten und von vielen, zwischen lebendigen Hecken und bunten Zäunen hinlaufenden Wegen durchzogenen bäume- und blumenreichen Gärten und Gärtchen eingenommen ist, erhebt sich das stattliche Gebäude mit seinen drei aus dem Hauptbau hervortretenden Flügeln und zweien Höfen, umgeben von einem großen Garten. Seine jetzige Bestimmung verkündet uns die auf seinem Dache wehende weiße Fahne mit dem rothen Kreuz, das alte Symbol des Johanniterordens, das jetzt alle internationalen Hospitäler schmückt.

Der Anblick dieser Fahne wirkt auf jedes Gemüth, das in dieser blutigen Zeit sich ihm nähert, wie ein Friedensgruß. Wer durch die Gruppen der vielen Theilnehmenden und Neugierigen, welche von früh bis Abend die Straße vor der Pforte belagern, gedrungen ist und diese Pforte mit ihren Wachtposten hinter sich hat, der sieht schon auf der Freitreppe und links und rechts in den freien Räumen die lebenden Beweise, daß dieser Gruß Wahrheit ist. Hier wandeln und sitzen viele der Genesung entgegengehende Soldaten all der drei Armeen, die im Kampfe gegeneinander gestanden, Preußen, Oesterreicher und Sachsen. Der steierische Jäger und der ungarische Husar, der böhmische Grenadier und der schlanke Italiener, der sächsische Jäger und Reiter, der Mann der preußischen Linie und der Landwehr, – sie stehen und sitzen nun ohne Groll beieinander. Die im Pulverdampf sich gegenseitig zerschmettert, thun hier einander alle mögliche Liebe an. Der junge, blühende Joppenträger mit dem Jägerhorn am Hut, der, wie ein Greis, an zwei Stöcken daherwankt, den zerschossenen Fuß vorsichtig nachziehend, wird freundlich unterstützt und geführt von dem Preußen, der, wie er, die schleswig-holsteinsche Medaille trägt. Dort mühen ein Ungar und ein Italiener sich ab, sich gegenseitig etwas verständlich zu machen, und weil dies keinem in seiner Muttersprache gelingt, so arbeiten sie mit den paar deutschen Brocken, die sie in den Garnisonen aufgelesen, ein kluges Berliner Kind aber hilft Beiden nach und zu Beider Wohlgefallen. „Wie geht’s heute?“ fragt der ehemalige Feind den Feind, besonders nach der schlimmen Stunde der Wunden-Untersuchung oder eines neuen Verbandes, und es ist wirkliche schöne Theilnahme, die aus dem befriedigten Gesicht leuchtet auf ein „Es geht besser“ oder „Es wird bald wieder werden.“

Im Garten hinter dem Gebäude steht die große sogenannte Luftbude, in welcher über einhundert der niedrigen Betten mit ihren Strohmatratzen, Kopfkissen und Wollendecken Platz fanden, auf denen Preußen, Oesterreicher und Sachsen bunt durcheinander liegen. Der Raum ist luftig und kühl, trotz der auf das getheerte Dach brennenden Sonne. Die Bedienung geht unaufhörlich auf und ab und der gute Brunnen daneben bietet vielbegehrte Labung. Im Schatten einer einfachen Breterhütte unweit davon weilt, so oft es Tageszeit und Witterung gestattet, immer eine unterhaltsame Gesellschaft. Ich habe schon manches Stündchen dort verlauscht, denn die Unterhaltung weicht und wankt nicht von dem Feld der bittersten Erlebnisse eines Jeden und wir hoffen noch manches lebendige Kriegsbild aus dieser Hütte für unsere Leser davon zu tragen. Sehr bezeichnend ist’s, wie die Preußen ihren österreichischen und sächsischen Gegnern nie mit dem geringsten Zweifel an der einzelnen Mannestapferkeit zu nahe treten; dagegen sind die Oesterreicher um so offenherziger in ihrem Urtheil über ihre eigenen Befehlshaber. „Wir haben stundenlang bei einer Holz- und Breterniederlage gestanden, aus der wir zehn solche Luftbuden, wie die da, gebaut hätten, in einer Viertelstunde hätten wir uns eine Barrikade gegen die preußischen Kugeln hergestellt, wir haben’s den Lieutenants und die den Hauptleuten und die haben’s wieder weiter und immer höher hinauf gesagt, aber nein, wir mußten uns neben und auf dem Holze hernach zusammenschießen lassen. So ging’s uns!“ erzählte ein Deutschböhme. „Und wir haben gar preußische Infanterie in einem Wald angreifen müssen,“ murrte ein sächsischer Reiter.

Dort den Gartenzaun nach der Straße entlang stehen immer Gruppen von Oesterreichern, die dem draußen versammelten Publicum ihre Schicksale erzählen und ihre Wunden zeigen. Da wird manches Gemüth gerührt und manche Gabe fällt ab, wenn auch wohl manche ungeheuerliche Nachricht von dieser Berichterstatterstelle mit fortgenommen wird.

So bunt und lebhaft das Treiben im Freien ist, so ernst, gemessen und still tritt uns Alles im Hause selbst entgegen, man mag die breiten hellen Corridore durchwandeln nach jeder Richtung, überall Ruhe, Reinlichkeit, Luft, Licht, Ordnung, Friede.

Die alten unverwischlichen Inschriften der Zimmerabtheilungen contrastiren freilich mit den neuen auf den aufgeklebten Papierblättern. Hier: „Kinderstube“ – „Knabenstation“ – „Mädchenstation“ – und jetzt: „Stationsarzt .…“, – „Assistent .…“, darüber die Namen der in dem Zimmer liegenden Verwundeten, darunter die Nummer des Zimmers und die Bettzahl, z. B. „Bett: 490–499“ – Hier Zimmer der Diakonissinnen, dort Zimmer für die wachthabenden Aerzte u. s. w. Durchschnittlich werden fünfhundert Verwundete im Waisenhause gepflegt.

In diesen stillen Räumen befinden sich die Schwerverwundeten oder an ihren Wunden noch schwer Darniederliegenden, deren erster Ausgang aus dem Bett noch nicht weiter als bis an die Fenster oder bis auf den Corridor geht. Hier begegnet man vielen Gesichtern, in denen die Schmerzenszüge noch tief ausgeprägt sind. Wie alle aus großem Unglück geretteten, aus herber Krankheit genesenden Menschen kommen auch diese jedem Fragenden so mild, gut, zuthunlich entgegen, und namentlich viele Oesterreicher fand ich so dankbar-glücklich. Sie hatten endlich die Hände kennen gelernt, in die sie gefallen waren; müssen doch nicht wenige derselben erst von der namenlosen Angst geheilt werden, die ihnen vor der preußischen Gefangenschaft eingeredet war, ehe ihre Wundenheilung mit Glück gefördert werden konnte. Oeffentliche Blätter erzählten von einem schwerverwundeten Böhmen, dem in Liegnitz eine Dame Erfrischungen darbot. Mit Augen, die in Fieber glühen, mit ganz vertrockneten Lippen weist er die Gabe in sichtlicher Angst zurück. „Schaun’s, Gnaden, der dalkete Kerl fürcht’ sich halt,“ sagt endlich sein Nebenmann, nimmt das Glas und trinkt einen tüchtigen Schluck. Erst jetzt war der Böhme überzeugt, daß er nicht vergiftet werden soll, und nahm die Labung an. Uns erzählte ein Böhme, daß die „Herren“ und die Geistlichen ihnen gesagt hätten, jeder gefangene Oesterreicher werde von den Preußen nach und nach in kleine Stücke zerschnitten, – und als wir dies ungläubig belachten, riefen seine sämmtlichen Cameraden: „Ja, ja, so ist es, so hat man es uns gesagt.“ Leider lag’s in ihren Mienen nur zu deutlich, daß sie es auch geglaubt hatten!

Ein ganz anderes Bild zeigt uns die Turnhalle. Während wir im Waisenhause, die beiden Bettenreihen der Luftbude ausgenommen, nirgends eine große Anzahl von Leidenden in einem Raume erblicken, sondern die vielen einzelnen Zimmer den Anblick des Jammers wenigstens theilen, in vielen Fällen auch ganz verschließen, und während uns besonders in den oberen Etagen des Hauses überall die tiefste Stille umgiebt, die meisten Wärter und Diener in Hausschuhen gehen, liegt beim Eintritt in den großen Turnsaal mit einer Aufschau die reihenweise Lagerstatt von Hunderten der Männer, die in der schönsten Lebenskraft an ihren Wunden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 462. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_462.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)