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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Die Welfenburg.


„Hie Welf!“ So erscholl zum ersten Male der Schlachtruf am einundzwanzigsten December 1140 über die schneebedeckten Fluren von Weinsberg, und durch Generationen antwortete ihm fortan das Feldgeschrei „Hie Waiblingen!“ in den brudermörderischen Kämpfen, in welchen die Parteien der deutschen Kaiser und der römischen Päpste, der nach Freiheit strebenden Städte und des kaisertreuen Adels Deutschland und Italien verheerten.

Das Haus der Hohenstaufen ist seit Jahrhunderten ein untergegangenes, sein letztes Blut war nicht auf den Schlachtfeldern, sondern auf dem Schaffot vergossen worden, als Conradin’s jugendschönes Haupt auf dem Markt zu Neapel vom Rumpfe fiel; das Haus der Welfen ward vom Rad des Schicksals aus Deutschlands äußerstem Süden im Lauf der Jahrhunderte bis zu dessen äußerstem Norden getragen, gleich dem der Hohenzollern, und nachdem beide in Norddeutschland zu königlicher Macht sich erhoben hatten, sollten nach fast sechshundert Jahren die Hohenzollern die Rächer der Hohenstaufen an den Welfen werden, deren Königsthron sie am 27. Juni 1866 auf den blutigen Feldern von Langensalza zertrümmerten. – Das Wappen der Waiblinger oder Hohenstaufen war einst eine weiße Rose oder eine rothe Lilie gewesen. Die Welfen hatten in feindseligem Uebermuth zu ihrem Wappen einen Adler gewählt, der einen blauen Drachen mit rother Lilie auf dem Kopfe mit seinen Klauen zerriß. Als dieser blaue Drache ist Preußens Macht erstanden, der den alten Welfenadler wie das neue Welfenroß zugleich verschlang. Mit dem braunschweigischen Herzogshut, der nur noch über zwei Augen glänzt, fällt das letzte Besitzthum der alten mächtigen Dynastie an die norddeutsche Großmacht und hat das Haus der Welfen in Deutschland sein Ende erreicht, wenn nicht alle Anzeichen trügen.

Im Augenblick der Ausführung eines so verhängnißreichen Richterspruchs des Schicksals erscheint es uns an der Zeit, eine alte Stammburg des Welfenhauses aufzusuchen und von ihr aus einen Blick in die Vergangenheit des Geschlechts zu werfen. Es ist vielleicht nicht allen unsern Lesern bekannt, daß die Welfen ihren Ursprung aus Italien und ihren Namen von einer Sage herleiten. Erst im elften Jahrhundert sollen sie über die Alpen gekommen sein. Altdorf wird als ihre erste Dynastenstation genannt, und der Sohn eines Warin von Altdorf, Graf Isenbrand, gab dem Geschlechte den Namen der Welfe. Desselben Grafen gesegnete Gemahlin soll nämlich von zwölf Knaben auf einmal entbunden worden sein, während der Graf sich eben des Waidwerks erfreute. In der Angst der Befürchtung, daß ihr Gemahl wegen des gar so reichen Ehesegens Unwürdiges von ihr argwöhnen möge, gebot sie einer Dienerin, die Kinder in einem Korbe hinaus in den Wald zu tragen und dort dem Himmel zu überlassen. Da kam der Graf ihr des Wegs entgegen und fragte die Dienerin, was sie in dem Korbe trage. „Welfe“ (d. h. junge Hunde), antwortete sie. Als aber der Graf den Korb geöffnet und die Knabenschaar gesehen und ihren Ursprung erforscht, ließ er sie heimlich erziehen und erst als sie zu stattlichen Jünglingen herangewachsen waren, führte er sie zu ihrer Mutter zurück und bestimmte, daß sie und alle ihre Nachkommen fortan heißen sollten, wie die Dienerin sie genannt hatte: Welfe.

Der Schauplatz, den man dieser Sage gegeben hat, ist Weingarten, ein Kloster, von dem man glaubt, daß es aus einer Burg der Welfen entstanden sei. Dort bewahrt man noch heute die Grabstätten von sieben Welfen, und eine besondere Herzenssache des letzten Königs von Hannover war vor einigen Jahren die glanzvolle Wiederherstellung jener Welfengruft.

Unweit davon, auf dem Berge bei der heute zu Würtemberg gehörenden oberschwäbischen Stadt Ravensburg, steht, zum Theil noch ziemlich erhalten, die deutsche Wiege des Geschlechts, die Veits- oder Welfenburg. Die meisten Reisenden auf der Ulm-Friedrichshafner Eisenbahn, an welcher Ravensburg liegt, eilen, trotz der sehr schönen Gegend, dort vorüber, weil sie entweder die Sehnsucht in die Schweiz treibt oder sie von Naturgenüssen übersättigt von dort heimkehren. Dies würde auch mir geschehen sein, wenn ich nicht halb und halb mit Gewalt davon zurückgehalten worden wäre.

„Die Eisenbahnen könnten etwas Besseres thun, als die Menschen an so viel Schönem nur vorbeizujagen.“ Mit dieser Bemerkung wandte mein Reisenachbar im Friedrichshafen-Ulmer Schnellzug sich an mich. „Die Leute wissen’s gar nicht,“ fuhr er fort, „daß es häufig fast noch schöner ist, in die Schweiz hinüber zu schauen, als drinnen herum zu laufen, und da kann Einer lange suchen, bis er einen Standpunkt dazu findet, wie wir Ravensburger ihn haben.“

„So?“ fragte ich mit der Gedehntheit des halben Zweiflers. Und da er mir dafür den Blick eines Verletzten zuwarf, so fügte ich meinem „So“ die Erklärung bei, daß wir Deutschen es an uns hätten, allesammt in unsere Heimathstätten sterblich verliebt zu sein; daß jeder Deutsche in seiner Gegend etwas besonders Sehenswerthes preise und daß man gar keine Eisenbahn nöthig hätte, wenn man alle diese Sehenswürdigkeiten sehen wollte.

„Herr!“ brauste mein Nachbar auf, „das ist so eine nordische Redensart, die nur der Neid ausspricht, wenn nicht was Schlimmeres. Was bildet man sich denn im Norden droben ein? Wir haben Euch die besten Dichter, die größten Philosophen und die glänzendsten Herrschergeschlechter schicken müssen und dafür wollt Ihr uns nicht einmal die Freude an unserer Heimath lassen? Ihr Männer von Ravensburg,“ wandte er sich an einen Theil der übrigen Waggongesellschaft, „man sollte billig einmal an einem Norddeutschen Gewalt brauchen, damit er unsere Stadt beschreite und die Welfenburg ersteige und dann Zeugniß ablege, welch’ einen Blick ein deutscher Mann von da droben in die Lande senden könne.“

„Dabei bleibt’s!“ riefen mehrere fröhliche Stimmen; „der Herr ist unser Gast –“

„– und Gefangener,“ setzte mein Nachbar hinzu. „Wie steht’s nun? Wollen Sie’s auf gastfreundschaftliche Gewalt ankommen lassen?“

Da war nicht zu widerstehen; herzlich zufrieden fügte ich mich dem allgemeinen Schwabenwunsche – und sage heute den braven Männern hiermit meinen Dank dafür.

Nach kurzer Rast in der durch ihre alterthümlichen Bauwerke ehrwürdigen Oberamtsstadt Ravensburg begann in zahlreicher Gesellschaft unser Gang auf die Burg. Obwohl ein bequemer Fahrweg hinaufführt, so zogen wir doch einen der schattenreichen Fußsteige vor, die auf der Nordseite des Berges angelegt sind und, wenn auch steil, doch mit überraschend wachsenden Fernblicken erfreuen, und an denen häufig Ruhebänke zum Sitzen einladen. Die Stadt selbst gewährt ein gutes Bild, besonders imponirend trotzt uns ein alter Thurm entgegen, der den höchsten Theil der ehemaligen Stadtbefestigung bildete, dem Land und der Burg zugleich Widerstand zu leisten bestimmt war und wegen seiner wunderlichen Gestalt den dieser entsprechenden Namen „der Mehlsack“ erhielt. Die Stadt liegt im reizenden Schussenthal und soweit der Burgberg diesem sich zuneigt, schmückt ihn die üppigste Rebpflanzung bis an die Stirn; die übrigen Abhänge sind wenigstens mit Rasengrün bekleidet und mit zerstreuten Gruppen hübscher Bäume und Sträucher geziert.

Schon unterwegs macht man die Entdeckung, daß wir keinen Bergkegel vor uns haben, sondern daß die Burg die vordere Kuppe eines langgestreckten Bergrückens einnimmt, die durch einen tiefen Graben erst von diesem künstlich getrennt worden war. Jetzt ist der Graben ausgefüllt. Auf dem Bergrücken steht die alte Pfarre St. Christina. Betreten wir den Burgraum, so sehen wir von den ehemaligen Befestigungsmauern nur noch wenige Trümmer, ausgenommen die das Thor umgebende Mauer nach Süden hin. Dagegen stehen die festgewölbten Pferdeställe der Welfen und Hohenstaufen noch heute, nur daß in den oberen Räumen derselben, wo das Ingesinde der Burg zu wohnen pflegte, jetzt einige ärmere Familien hausen, und wo die Streitrosse der Ritter ungeduldig die Erde stampften, eine friedliche Schafheerde untergebracht ist. Auf dem grünen Rasenboden des Burghofs, der mit Obstbäumen und Kastanien bepflanzt ist, schlängeln sich bekieste Wege nach der offenen Nord- und Westseite des Burgraums. Dazwischen stehen Bänke und Tische, an denen wir bereits Gäste vorfanden, die sich am trefflichen Biere der Schloßwirthschaft erquickten. Gegen S.-W. steht isolirt ein größeres Gebäude, das nach Zerstörung der Burg im Anschluß an die soliden Mauern des südlichen Eckthurms aufgeführt wurde, nach der Südseite mit Veranda und Balcon versehen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_515.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)