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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

sagen, daß er über eintausendvierhundert Fuß hoch sei, nördlich von Frankenhausen liege und daß die Trümmer einer alten Kaiserpfalz seinen Gipfel krönen. Aus diesem geographischen Steckbriefe werden nun wohlunterrichtete Sterbliche erkennen, daß es sich um einen sehr poetischen Berg handelt, nicht etwa um den Venusberg, der früher eine große Anziehungskraft auf geniale Köpfe ausübte, ehe ihn die Zukunftsmusik in eine alltägliche Bühnendecoration verwandelte, nein, um den ehrwürdigen Berg, in welchem die deutsche Herrlichkeit schläft, um den Kyffhäuser! Und in heutigen Tagen muß man auf diesen Kyffhäuser mit ganz andern Augen blicken, als vor dem glorreichen „siebentägigen Krieg“!

Von der Victorshöhe in das Selkethal führt der Weg anfangs abwärts durch den schönsten Buchenwald. Welchen lichten Eindruck machten diese schlanken Säulenhallen selbst in der Abenddämmerung! Wie männlich kräftig stehen sie da, nicht soldatisch disciplinirt wie die Wegpappeln der Chausseen, aber auch nicht mit jener einsamen, trotzigen, knorrigen Kraft der Eiche. Es ist eine Genossenschaft Gleichstrebender, mächtig und frei. Der gewaltige Stumpf eines Buchenstammes, welcher den Namen „die Bärenbuche“ führt, erinnerte uns, daß auch der Harz seine „letzten Mohikaner“ hatte. Die Stätten, wo der letzte Wolf, die letzte wilde Katze, der letzte Bär erschlagen worden, bleiben Denkstätten der Harzbewohner und werden dem Fremden als besondere Merkwürdigkeiten bezeichnet. Der Harz ist jetzt so civilisirt und von der Cultur beleckt, daß seine Bären und Wölfe ebenso der Sage angehören, wie seine von Fels zu Felsen springenden Prinzessinnen. Dagegen sind die wilden Schweine noch sehr heimisch in den Harzwäldern, und wir fanden in dem Tannendickicht am Wege den Förster auf dem Anstand, um diesen Waldbewohnern aufzulauern. Es war ein unheimlicher Weg durch die noch nicht gelichtete Tannenpflanzung, deren Dunkel noch schauerlicher gegen das Dunkel des sternenlosen Abends abstach. Die Phantasie konnte diese verwachsene Dickung mit all’ den Gestalten der „wilden Jagd“ bevölkern. In der That schien sie ganz geeignet für ein Absteigequartier des wilden Jägers, wenn er des ewigen „Halloh!“ müde geworden sein sollte, was indeß von ihm so wenig zu erwarten ist, wie von einer ergrauenden Primadonna oder einem Künstlerveteranen, daß sie des Applauses müde werden und der Hervorrufe.

Bald erreichten wir die Chaussee und sahen, anmuthig im Selkethal gebettet, im Lichte des eben aufgehenden Mondes das herzogliche Hüttenwerk Mägdesprung, mit seinen hohen Schornsteinen, seinen unruhigen Eisenhütten und dem gastlichen Hotel. Zwei riesige Jungfrauen, welche in der Küche walteten, schienen noch aus jener Zeit zu stammen, in welchem ein kräftiges Mädchen leichter über das Selkethal hinwegsprang, als heutigen Tags ein „Mädchen von Stande“ über die Kluft der Vorurtheile. Der alte Harz mit seinen Bären, Wölfen und Riesenjungfrauen trat in diesem modernen Industrieort uns lebhaft vor die Seele. Bis in die Träume hinein verfolgten mich die kolossalen Töchter der alten Sage; ich sah sie einen Morgennebel als Negligé um die mächtigen Glieder hüllen, Federball spielen mit den Felsen des Selkethals und einen Tannenwald zerknicken mit den Reifen ihrer Crinoline. Da erwachte ich. Hell schien die Morgensonne in das Waldthal und verkündete einen lustigen Wandertag.

Bald stand ich auf der Klippe des Mägdesprungs und sah hinab in das reizende Selkethal, das seine steilen Felsen so anmuthig unter dem grünen Gewand zu verstecken weiß. Nur hin und wieder treten sie schroff und kahl zu Tage. Nichts unterbricht die Morgenstille der Landschaft als das Pochen des Eisenhammers unten im Thal. Auf gepflegten Promenaden, durch Kornfelder hindurch, führt uns der Weg oben über die Berge. Hier, auf der Straße nach Harzgerode, glaubt man sich ganz in harmloser und unromantischer Ebene zu befinden und ahnt gar nicht den tückischen Absturz der Felsen dicht an der Seite. Wir kletterten indeß den steilen Waldhang wieder hinab, um in das Selkethal zu gelangen. Hier ist die Selke unruhig geworden und hat sich in ihrem Bette hin und her geworfen. Bald bildet sie den Spiegel eines breiten Teiches, in dem die Contouren der Felsen anmuthig wiederscheinen, bald läßt sie zur Seite ein früheres versumpftes Bett im Schatten der Erlen, wo Wasserlinsen und Wasserfäden schwimmen, giftige Sumpfpflanzen wuchern, eine Stätte, die an die Stätten des Lasters erinnert, voll Moder und Fäulniß, während die tugendhafte Jungfrau selbst mit heller Krystallfluth lieblich plaudernd durch die Wiesen dahinhüpft.




Bei verkrüppelten Künstlern.


Etliche zwanzig Jahre mögen es her sein. Ein nun verstorbener Freund von mir war damals Schüler des genialen Kaulbach, dessen Narrenhaus, Hunnenschlacht und sonstige Compositionen soeben die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatten. Kaulbach hatte gerade den ernsten Griffel der grausig-mythischen Charaktermalerei weggelegt, um für einige Zeit der Aesop der Malerei zu werden und Goethe’s Reineke Fuchs zu illustriren. Das Werk war noch nicht an die Oeffentlichkeit getreten, aber unter den Münchener Kunstkennern, Künstlern und Kunstfreunden schon bekannt geworden und hatte einen solchen Eindruck gemacht, daß man dem Meister dafür eine Huldigung zu bringen gedachte. Es war im „wunderschönen Monat Mai“ und eine der Künstlergesellschaften wollte ihr herkömmliches Frühlingsfest feiern und zwar am Starnberger See, wo damals Kaulbach ein hübsches Landhäuschen bewohnte und in ländlicher Abgeschiedenheit an seinem neuen Werke arbeitete. Da machten mein Freund und einige andere Schüler Kaulbach’s den Vorschlag, mit jenem Künstlerfest die beabsichtigte Huldigung für den Meister zu verbinden, und zwar durch einen Maskenzug, welcher die verschiedenen Thiergestalten aus Reineke Fuchs darstellen sollte. Diese Idee fand allgemeinen Beifall; der liebenswürdige, talentvolle Graf Pocci, in welchem sich Dichter, Musiker, Maler und Caricaturenzeichner vereinigen, erbot sich sogleich, Text und Chöre für das Festspiel zu dichten und zu componiren. Es handelte sich also nur noch um die Masken. Einige der Künstler unternahmen es, sich selbst die nöthigen Thierköpfe für die eigenen Rollen zu verfertigen, aber noch war man sehr in Sorge darüber, woher man die anderen Thierlarven bekommen sollte, als plötzlich Jemand, von einem glücklichen Einfall inspirirt, rief: „Wohlan, laßt sie von den verkrüppelten Knaben verfertigen!“

Noch waren manche unschlüssig, ob dies nicht eine Persiflage sein sollte, als uns der Finder dieser glücklichen Idee auseinander setzte: drunten an der Isar sei eine Bewahranstalt für krüppelhafte Knaben, ganz wundersam geschickte Bursche, die alles zu Stande brächten, was nur aus Pappe und Leim gemacht werden könne. Mein Freund ward mit dem Auftrage betraut, sich mit dem genannten Asyl in Verbindung zu setzen, und ich begleitete ihn auf diesem amtlichen Gange. Wir fanden die Anstalt, ein geräumiges altes Haus, das vor zweihundert Jahren eine lustigere Gesellschaft beherbergt haben mochte. Der Director derselben, ein Herr Mayer, empfing uns; mein Freund nannte sein Anliegen, legte die Skizzen zu den verschiedenen Larven und Thierköpfen vor und freute sich herzlich, daß der Director alsbald auf den Humor der Sache einging. Wir hatten noch einige von den Köpfen vergessen, aber Herr Mayer entwarf sogleich Skizzen nach den Andeutungen meines Freundes und überraschte uns hinterher durch die Thatsache, daß die von ihm gelieferten Entwürfe zu den besten unter allen gehörten, denn dieser Herr Mayer war ein vortrefflicher Zeichner. Nachdem der Auftrag, der uns hergeführt hatte, erledigt war, zeigte uns der Director einen Theil der Arbeiten, welche seine Pfleglinge lieferten, nämlich Masken und anderes Geräthe für Theater und alle möglichen eleganten Spielzeuge in Papiermaché. „Einige von diesen Knaben sind wahre Kobolde und Teufelsbraten,“ sagte er, „allein wenn man dem bösen Geiste der negativen Thatkraft in ihnen einen künstlerischen Abzugscanal eröffnet, so schlägt das Schlimme leicht in das Gute um.“

Die Larven und Thierköpfe wurden verfertigt, die Rollen einstudirt, und an einem glorreichen Maimorgen machte sich die ganze Gesellschaft zu Roß und Wagen auf den Weg nach dem Starnberger See, wo im Walde hinter Meister Kaulbach’s Landhäuschen das Fest mit jenem unverwüstlich ausgiebigen, ansteckenden Humor gefeiert wurde, welcher alle derartigen Künstlerfeste auszeichnet.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_545.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)