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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Nie kann ich seitdem Thierlarven sehen, ohne an jenes Fest und die verkrüppelten Knaben erinnert zu werden, und wie oft ich nachmals auch nach München kam, immer vergaß ich über anderen Anregungen, meinen Besuch jenes Asyls zu erneuern. Endlich vorigen Sommer fand ich Muße zu einem derartigen Besuch. Argloser Weise hatte ich das ursprünglich von einem menschenfreundlichen Privatmann, Herrn von Kunz, schon 1832 gegründete, zwölf Jahre später zur Staatsanstalt erhobene Asyl für verkrüppelte Knaben noch in seiner alten Behausung unten an der Isar aufgesucht, mußte aber erfahren, daß dasselbe nun ein eigenes Grundstück in einem der neuen Stadttheile, in Nr. 13 der Staubstraße besitze, das ich nach langem Suchen und nach einer Wanderung durch die beiden blüthengeschmückten Kirchhöfe endlich auffand. Diese Nummer 13 in der Staubstraße ergab sich als ein zweistöckiges, weißes Haus ohne allen Anschein oder Aussehen von der Würde einer öffentlichen Anstalt. Ein Zaun, ein leicht geneigter Rasenplatz mit Gruppen von Rosenbäumchen und Fuchsien trennte es von der Straße, die ihren Namen mit Recht führte. Der Director, der mir auf der Treppe des Hauses entgegenkam, war nicht mehr mein alter Bekannter Herr Mayer, der inzwischen Chef einer bedeutenden Fabrik geworden war, empfing mich aber auf das Freundlichste und versicherte mich, daß es ihm Vergnügen machen werde, mir die Anstalt und die Leistungen seiner Zöglinge zu zeigen.

Es war Nachmittags und der Director theilte mir auf dem Wege nach dem Schulzimmer mit, die Schulstunden seien sämmtlich so angeordnet, daß sie mit zwölf Uhr Mittags schlössen, damit die Knaben nach dem Essen sich mit ihren Handarbeiten befassen könnten. Ich betrat nun unter seiner Führung einen wahrhaften Fabriksaal von mehr als vierzig Fuß Länge, der zwar leider keine hinreichende Lüftung, aber durch fünf Fenster genügendes Licht hatte. Hier beaufsichtigte der Industrielehrer, ein freundlicher Mann von intelligentem Aussehen, etwa achtundzwanzig Knaben im Alter von neun bis fünfzehn Jahren an den niedrigen, viereckigen Tischen, welche in doppelter Reihe das Zimmer entlang standen. Der Fußboden war mit Schnitzeln von Pappe und buntem Papier bedeckt; halb vollendete Uhrständer, Schachteln und alle möglichen Gegenstände von Papp- und Etuisarbeiten in verschiedenen Stadien der Anfertigung nahmen einzelne Tische ein, und an anderen saßen die jungen Arbeiter, pfiffen zu dem Tacte ihrer schmalen Uhrfedersägen oder bliesen den Staub von den feinen Holz-Galanteriearbeiten hinweg, welche sie aussägten. Alle waren in die Uniform der Anstalt, Beinkleider und Westen von dunklem Wollstoff und blaue Blousen mit Gürteln, gekleidet. Viele von ihnen hatten Krücken dicht neben sich an die Bank gelehnt stehen, andere die schmächtigen Fußgelenke in eiserne Maschinen gespannt; Lahmheit war in verschiedenen Graden und Arten vertreten; einige Knaben waren nur halb gelähmt, bei anderen waren durch eine seltsame Laune der Natur die zehn Finger so verkrümmt und verdreht, daß es kaum glaublich erschien, wie dieselben jemals die Verrichtungen von menschlichen Händen zu erlernen vermöchten. Auch Buckelige waren da, vielleicht noch die Glücklichsten von Allen, denn sie versprachen gemeinhin den meisten Erfolg. Der Mehrzahl jener Verkrüppelungen und Verkrümmungen liegt Scrophulose zu Grunde, die bei Buckeligen weit seltener vorkommt. Ein kleiner Buckeliger copirte an diesem Nachmittag mit besonderer Erlaubniß einiges ornamentale Laubwerk und zwar mit der Genauigkeit und Sorgfalt eines mittelalterlichen Miniaturmalers. Wie er so bei seiner Arbeit saß, den Kopf beinahe ganz verborgen unter den hochgebauchten Schultern, und auf des Directors freundlich-beifälligen Zuspruch das blasse Gesicht langsam zu uns aufschlug, überkam mich eine unwillkürliche Wehmuth bei dem Anblick der seltsamen Schönheit dieser intelligenten Augen und dem Lächeln der schmalen, bleichen Lippen seines ausdrucksvollen Mundes, der einen ruhigen, selbstbewußten Stolz ausdrückte. Man darf nämlich hier im Bereich der Krücken nicht die Schüchternheit und das hübsche, linkisch-naive Wesen anderer Kinder erwarten: alle solche Dinge verschwinden mit dem ersten Bewußtsein eines exceptionellen Geschickes.

„Ich lasse alle diese Knaben im Zeichnen unterrichten,“ sagte der Director; „die Genauigkeit im Augenmaß und Sicherheit des Tastsinns, welche das Zeichnen verleiht, ist diesen Armen von großem Nutzen und ersetzt ihnen Vieles, was ihren mangelhaften Händen die Natur versagt hat. Keiner von diesen Knaben darf sich an irgend eine unserer feineren Arbeiten wagen, bevor er nicht fertig zeichnen kann.“ Wir traten an einen Tisch am jenseitigen Ende des Zimmers, wo ein Knabe von ungefähr zehn Jahren mit so geraden Schultern und strammen, gesunden Gliedmaßen, wie man sie nur von einem Jungen erwarten konnte, ganz emsig an einem Leimtopf und großen Haufen regelmäßig geschnittener Papierstückchen hantirte. „Wie steht es mit der Schachtel?“ fragte der Director den Jungen, der offenbar kein Krüppel war.

„Ganz gut, sehen Sie, Herr!“ war die Antwort und der Knabe hielt eine Schachtel mit hübsch gerändertem und bunt überzogenem Deckel in die Höhe mit Händen, deren jede nur zwei Finger hatte. Noch vor wenigen Monaten vermochte der Knabe mit diesen verstümmelten Händen kaum zu essen, jetzt konnte er sehr hübsch schreiben, etwas zeichnen und Schneidwerkzeuge vollkommen genau und geschickt handhaben. Er war aber noch nicht einmal so übel daran, wie einer seiner Vorgänger, der nur einen Finger an jeder Hand gehabt, sich indeß so viel Mühe gegeben hatte, seine Mängel zu überwinden, daß er wegen seiner Handgeschicklichkeit in der Anstalt berühmt gewesen und nun im Stande war, sich außerhalb derselben seinen Unterhalt zu verdienen. Was für ein trauriges Loos wäre einem solchen Menschen aufbewahrt gewesen, wenn er nicht die geduldige Sorgfalt, die unermüdliche Unterstützung und Ermuthigung gefunden hätte, welche diese Anstalt solchen Unglücklichen bietet!

Die Arbeit des Leimens schien die jungen Zöglinge am meisten zu absorbiren, denn ich sah drei buckelige Knaben ganz vertieft in den Aufbau der Pappwände eines großen Bonbons-Aufsatzes, wozu das von ihnen selbst verfertigte Muster vor ihnen stand. Es sah ganz phantastisch aus mit seinen elfenbeinweißen Säulen, seinem geschmückten Karnies und den dahinter befindlichen, mit gewässertem Seidenstoff überzogenen Wänden. Die Zeichnungen und Entwürfe zu allen diesen Arbeiten der verschiedensten Art rühren von dem Director her, und die Muster davon sind in Menge in einem großen Glasschrank am Ende des Zimmers aufgestellt. Es sind darunter à jour ausgeführte und geschnitzte Arbeiten aus verschiedenen Holzarten, welche sich auf jedem Markte sehen lassen dürften. Während ich diese Muster betrachtete, gedachte ich der alten Larven, die meine erste Bekanntschaft mit der Anstalt vermittelt hatten, und erfuhr, daß die Formen dazu noch existirten und manchmal im Carneval noch hervorgeholt würden, wenn Bestellungen auf einzelne derartige Thierköpfe eingingen.

„Ich freue mich jedesmal über einen solchen Auftrag, denn die Knaben arbeiten mit einem wahren Vergnügen daran,“ sagte der Director. „Weil unsere Anstalt sich bemühen muß, sich so viel wie möglich selbst zu erhalten, so richten sich unsere Arbeiten natürlich immer nur nach dem Bedarf von außen. Zu jener Zeit wurden vielerlei Zimmerverzierungen von Papiermaché in der Anstalt verfertigt; jetzt aber machen wir vorzugsweise nur noch Jagdthierköpfe, denen wir natürliche Geweihe und Gehörne aufsetzen, wie diese hier,“ und er zeigte mir einen derartigen Hirschkopf. „Die hierzu angewendete Papiermasse ist von einer besonderen Art und kann trotz ihrer Leichtigkeit ungemein viel aushalten.“

Auf meine Frage, ob die Knaben gewöhnlich den in der Anstalt erlernten Beschäftigungen treu blieben, antwortete der Director, dies geschehe nicht in allen Fällen. „Der Hauptzweck unserer Anstalt ist eigentlich nur der, den Knaben durch die hier betriebenen Arbeiten eine gewisse Handfertigkeit zu geben,“ sagte er. „Sind es Söhne armer Eltern, so bringen wir sie bei ihrem Austritte auf Kosten der Anstalt als Lehrlinge in irgend einer geeigneten Profession unter und finden leicht Lehrherren für sie. Nach den ursprünglichen Statuten ward kein Knabe unter zwölf Jahren in die Anstalt aufgenommen; da wir aber immer den ärmsten Candidaten den Vorzug geben, so fand man es bald für passend, von dieser Regel zurückzukommen, denn je jünger die Zöglinge uns übergeben werden, desto leichter ist gewöhnlich ihre physische Erziehung. Die Eltern machen nur allzuoft einen Gelderwerb aus der Verkrüppelung eines Kindes; das arme Geschöpf wird auf den Bettel hinausgeschickt, bis es diese Beschäftigung lieb gewinnt, und eine sittliche Besserung ist dann bei ihm fast unmöglich; die hierbei in’s Spiel kommende Eitelkeit ist eine sonderbare sittliche Erscheinung bei diesen verwahrlosten Kindern.“ Unter anderen Beispielen erzählte mir nun der Director folgendes sehr charakteristische. Ein ungewöhnlich begabter buckeliger Knabe von etwa zehn Jahren war in die Anstalt aufgenommen worden, nachdem er zuvor gewöhnt gewesen war, wochenlang allein im Lande

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_546.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)