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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

soll Er nachhelfen und ich will sehen, ob Er’s versteht. Denk’ Er sich also, ich selber sei ein solcher Bruder Liederlich, Saufer und Raufer, Ihm vom Hauptmann zu einer tüchtigen Kopfwäsche zugeschickt. Und nun stell’ Er sich dort hinter den Stuhl und leg’ Er los, Zeit habe ich nicht viel!“

Der arme, vor Hunger und Durst schier verschmachtende Candidat begriff, was für ihn an diesem Augenblicke hing, Brod und Ehre oder Schmach und Elend, vielleicht bei seinem hohen Wuchse der Soldatenrock. Der Magen klapperte immer bedenklicher und die müden Füße wankten. So begann er, sich räuspernd und den Angstschweiß von der Stirn wischend, mit matter Stimme seine Predigt. Kaum hatte er jedoch ein paar Sätze gesprochen, so war er in seinem Elemente und mit der Begeisterung wuchs auch der Muth. Und je länger er sprach, desto mehr vergaß er, wo er sich befand, bis er wirklich in dem Fürsten nur den hartgesottenen Sünder sah und dem Gewaltigen in unerschöpflicher Fülle einen so brausenden Strom der ausgesuchtesten Kraft- und Schimpfworte in’s Gesicht zu schleudern wagte, daß ringsumher die Wände erdröhnten.

Der Fürst hörte erst prüfend zu, dann verwandelte sich seine Aufmerksamkeit in sichtbare Bewunderung, zuletzt saß er regungslos in sich versunken mit gefalteten Händen da und verwandte kein Auge von dem feinen und bleichen Gesicht des jugendlichen Redners, der sich dieses Mal durch den forschenden Blick nicht stören ließ, sondern fortfuhr, ihm in allen möglichen Variationen die derbsten Wahrheiten in donnerndem Tone entgegen zu brüllen. Der Lärm wurde so stark, daß er auch in die Gemächer der Fürstin drang. Erschreckt eilte sie herbei, warf von der Seite einen Blick in das geöffnete Zimmer und stand erstarrt vor der überraschenden, ihr gänzlich unerklärlichen Scene, nicht ohne Besorgniß über den Ausgang und die unbegreifliche Dreistigkeit des seltsamen jungen Mannes; erst als derselbe geendigt hatte, trat sie eilig in die Thür und sagte: „Um Gotteswillen, was geht hier vor?“ Sie wollte Schlimmes verhüten und im Nothfalle den Zorn des Gatten beschwichtigen.

Dieser aber erwachte bei dem Anrufe aus einem Gefühl sanfter Beseligung; er war weich geworden, der Geist hatte die Form und den Ton gefunden, in der er zu ihm zu sprechen, sich ihm verständlich zu machen, nicht blos den Soldaten, sondern auch ihm selber in’s Gewissen zu greifen vermochte. So viel erfinderische, Mark und Bein erschütternde Grobheit hatte er noch von keinem Menschen gehört. Mit einem Schimmer von Milde in dem eisernen Gesicht nickte er der Gattin zu und entgegnete: „Nichts, gar nichts, mein Kind; ich habe mir blos von dem da ein paar Schmeicheleien sagen lassen, wie sie Unsereinem nicht alle Tage zu Theil werden; er hat sein Examen gemacht und gut bestanden. Und nun scher’ Er sich in die Küche und laß Er sich ein tüchtig Frühstück geben; Er ist mein neuer Feldprediger. Himmel-heilig-Donnerwetter, der Kerl versteht’s!“

Triumphirend verneigte sich der junge Mensch und stürmte hastig davon. Das Frühstück, das er sich durch seine Probepredigt verdient hatte, war ihm in diesem Augenblicke wichtiger als das neuerworbene Amt. –

So lebt das Geschichtchen von dem mächtigen Heldenfürsten und dem armen, hungrigen Candidaten seit länger als hundert Jahren im Munde des Volkes und so ist es von dem rühmlichst bekannten Theobald v. Oer in Dresden neuerdings in einem trefflichen Gemälde verewigt worden, von welchem unsere umstehende Illustration eine getreue Nachbildung ist. Mögen die Leser sich den Fürsten ansehen. Wir haben die obige drastische Scene aus seinem Leben herausgegriffen, weil sie plastischer als jede andere Einleitung die Eigenart des Mannes uns vor Augen stellt, dessen Charakterbild die nachfolgenden Schilderungen veranschaulichen sollen.

In einer Nacht des Jahres 1694 wurden die Bewohner eines der ersten Gasthäuser Venedigs durch den Lärm eines Auftrittes erweckt, dessen eigenthümlich wilde Leidenschaftlichkeit selbst die heißblütigen Italiener mit zitterndem Schrecken erfüllte. Es war in der Carnevalszeit, wo damals die imposante Königin des adriatischen Meeres sich noch in ihrem üppigsten Glanze zeigte, wo täglich das farbenprächtige Maskengetümmel in den buntgeschmückten Straßen und Häusern, der bacchantische Taumel, die tanzende und singende, zechende und brausende Ausgelassenheit eines entfesselten Volkslebens erst mit dem Grauen des Morgens erlosch, um nach einem kurzen Rasten der erschöpften Kräfte das Werk der tollen Lust von Neuem zu beginnen.

In dieser Stunde, da schon die ersten Strahlen des Tageslichts die verödeten Stätten entwichener Lust beleuchteten, kehrte ein vornehmer junger Deutscher von einem lustigen Gelage in jenes Hotel zurück und blieb betroffen und unmuthig an der Thür seines Zimmers stehen, als er in demselben den ihm zur Begleitung mitgegebenen Hofmeister noch wachend und vollständig angekleidet fand.

„Zum Teufel, seid Ihr verrückt geworden, Baron von Chalisac, was soll’s mit diesem späten Besuche?“ fuhr er, seine hohe Gestalt aufrichtend, mit herrischem und weinerhitztem Blicke seinen Begleiter an.

„Nichts als eine Erfüllung meiner Pflicht, gnädiger Herr,“ erwiderte ruhig der Angeredete; „mein Gewissen gebot mir, Sie zu erwarten, ich muß zum letzten Male meine warnende Stimme erheben. Italien ist schön und Niemand wird Sie hindern, es zu genießen, wie es einem fürstlichen Herrn geziemt; es ist aber auch eine berauschende giftsprühende Sirene für Jeden, der noch nicht ein tapferer Soldat, ein souverainer Fürst geworden gegen den Feind in seinem eigenen Blut. Gesund an Leib und Seele sind Sie hierher gekommen. Was rauh und unbändig in Ihnen war und der hohen Mutter oft tiefen Schmerz bereitete, sollte unter diesem milden Himmel, im Anblicke erhabener Natur- und Kunstschönheiten besänftigt werden. Statt dessen sehe ich in Ihnen neue Leidenschaften mit einer Gewalt erwachen, die mich erschreckt, stürzen Sie sich in den wüstesten Taumel Ihnen bisher unbekannter Genüsse, durchschwärmen in lockerster Gesellschaft, in Raufereien und wilden Orgien Ihre Tage und Nächte. Sie sind erst siebenzehn Jahre alt, mein gnädigster Herr, unerfahren, meiner Leitung anvertraut; bedenken Sie, was die Pflichten, welche Ihrer warten, was Ihre Ehre …“

Ueberrascht und mit wachsendem Erstaunen hatte der Jüngling bis dahin der an ihn gerichteten Vermahnung zugehört. Als er jedoch das Wort „Ehre“ vernahm, griff er nach seinem Degen, stampfte mit dem Fuße und ein Zug wilden Ingrimms ging über sein sonst schönes und regelmäßiges Gesicht. „Schweig’ Er, ich bin hier der Herr und Er der Knecht!“ rief er mit einer Stimme, daß die Wände des Zimmers erdröhnten.

„Verzeihung, aber ich darf nicht länger schweigen …“

„Schweig’ Er, sage ich ihm. Will Er’s versuchen, mir Ketten anzulegen? Ich habe keine tragen gelernt; ich hacke die Hand ab, die mich binden will, und wenn es des Teufels selber wäre, thue wie’s mir gefällt und höre auf, wenn ich Lust habe. Und damit gut, ich will jetzt schlafen!“

„Aber meine Instruction …“, rief der Hofmeister.

„Zeig’ Er her den Lumpenwisch, daß ich ihn zerreiße, zertrampele, in’s Feuer schmeiße. Frage nichts nach Weiberinstructionen und Weibergeplärr! Mein Vater ist todt, glaubt man mich nun kirre kriegen, in’s Joch spannen, Duckmäusern und Flederwischen ein Commando über mich geben zu wollen? He?“

Es wäre jetzt Zeit gewesen, daß Herr von Chalisac geschwiegen hätte. Denn die Gebehrden seines Schutzbefohlenen wurden mit jedem Augenblicke heftiger, eine aufsteigende Zornröthe überflog sein Gesicht und seine Züge nahmen immer mehr den Ausdruck eines gereizten Tigers an. Als daher der muthige Hofmeister noch eine Entgegnung versuchte, brach unaufhaltsam, wie glühender Lavastrom, die Flamme der Wuth hervor – ein fürchterlicher Anblick. Mit schäumendem Munde und stampfenden Füßen, bald in wieherndes Hohngelächter ausbrechend voll wildesten Grolles, bald in brüllend hervorgedonnerten Flüchen und Schimpfworten sich Luft machend, durchmaß der junge Mann erst einige Augenblicke das Zimmer, schmetterte klirrend und polternd von Spiegeln und Geräthen zu Boden, was er erfassen konnte, schlug sich mit den geballten Fäusten gegen den eigenen Kopf, riß dann, schnell entschlossen, ein geladenes Pistol von der Wand, stürzte mit gespanntem Hahn auf den Gegenstand seines Hasses zu und brüllte, kaum noch seiner Sinne mächtig, in entsetzlichem Tone: „Mensch, jetzt werde ich Dich los, jetzt schieße ich dich nieder, wie einen tollen Hund!“

Als Herr von Chalisac das bestialisch flammende Auge und die wahnwitzige Entschlossenheit in den wuthverzerrten Mienen seines Zöglings sah, trat er zwar einige Schritte seitwärts, richtete aber dann furchtlos das Haupt empor und sagte mit fester Stimme: „Thun Sie, was Ihnen beliebt, aber bedenken Sie wohl, was man sagen wird, wenn es einst in der Geschichte heißt: Prinz Leopold von Dessau hat seinen Hofmeister ermordet!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_622.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)