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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Vor den Vater Helenens? Ich weiß nicht ganz, ob ich das zweckmäßig finde; ich denke, es ist anzunehmen, daß Hugo doch zögert, so den Stier bei den Hörnern zu ergreifen; sein Gewissen ist doch bei der Sache nicht ganz rein; der Vater könnte, bevor er eine Antwort gäbe, an Helenen schreiben, und es wäre möglich, daß Helene im Conflicte ihrer Liebe und des Gefühls ihrer Verpflichtungen gegen den Vater sich nicht von ersterer fortreißen ließe, sondern dem Vater die Wahrheit gestände … Hugo muß wenigstens solche Bedenken haben, und ich halte es für besser, ihn zuerst zu dem Landjunker gehen zu lassen. In diesem sieht er das Haupthinderniß seines Glückes, ihn sucht er zu beseitigen; indem er vor ihn tritt, ihm seinen Trauschein vorlegt und ihm sagt: ‚Du siehst, Helene ist im Geheimen mein Weib – erkläre jetzt ihrem Vater, daß Du Deinen Ansprüchen entsagst,‘ thut er, was zunächst in seinem Plane lag.“

„Darin sollst Du Recht haben, Ernst; aber dann muß er doch mit dem Vater reden?“

„In der That. Der Landjunker läßt sich blenden und eilt zum Vater; dieser verlangt den Trauschein zu sehen – er nimmt ihn an sich, als Hugo ihn vorweist, und erklärt mit größerer Ruhe und Gelassenheit als Hugo gehofft, er wollte ihn von einem Juristen prüfen lassen, wenn er echt und authentisch, so sehe er ein, daß er sich in die Dinge, wie sie nun einmal seien, fügen müsse.“

„Vortrefflich,“ rief Alwine aus, „unser Stoff ist wirklich ganz hübsch … Hugo schreibt nun seiner Helene den Stand der Dinge, diese kommt zurück, der Vater giebt ihnen seinen Segen, und als Hugo ihm nun ein wenig beklommen sagt: aber einer kleinen nachträglichen Trauung, lieber Schwiegerpapa, wird es noch bedürfen, da …“

„Da macht der böse, harte, tückische Schwiegerpapa wie ein rechter Komödienpapa noch einmal gute Miene zum bösen Spiele? Ich denke, das ist nicht gut. Der Schluß gefällt mir nicht,“ warf Ernst nachdenklich ein. „Du mußt einen andern ersinnen.“

„Welchen meinst Du, zum Beispiel?“

„Nehmen wir lieber an, Helene, die ein Muster von einer guten Tochter ist, sei erzürnt über die Intrigue Hugo’s, über die Täuschung, die er sich gegen ihren Vater erlaubt, über das Unwahre, Trughafte in dem Auskunftsmittel ihres Geliebten. Sie mache, von London zurückgekehrt, Hugo bittere Vorwürfe; dieser erwidere ihre Vorwürfe mit dem Vorwurf, daß sie nicht Muth und Hingebung genug für ihn gehabt, um sich selbst in London mit ihm trauen zu lassen; daß ihre Zaghaftigkeit ihn gezwungen zu dem, was er gethan. Nehmen wir an, daß dieser Streit sich erhitzt, daß eine Erkaltung zwischen den Liebenden eintritt, daß endlich Helene ihrem Vater, den sie lebhaft beflissen findet, eine Wohnung für das junge Paar in seinem Hause einzurichten, der sie schon drängt, diese zu beziehen, endlich in der Verlegenheit die Art, wie er hintergangen ist, gesteht; daß der Vater nun durchaus nicht den Komödienpapa, sondern den rechten Trauerspiel-Tyrannen macht; daß Hugo im höchsten Zorn über Helene dieser zuletzt einen Absagebrief schreibt und daß der vollständigste Bruch eintritt.“

„Für immer?“ fragte Alwine betroffen.

„Ich denke für immer, Kind … Denn nach einem paar Jahren lernt Hugo auf einer Geschäftsreise – er ist Compagnon in einem anderen Handelshause geworden – eine junge Dame kennen, der sein über Helenens Verlust durch die Zeit getröstetes Herz sich zuwendet. Auch ihr gefällt er; er bewirbt sich um ihre Hand, er erhält ihre Zusage, er erhält die Einwilligung ihrer Eltern, seine Verlobung wird bekannt gemacht, er wird in der Kirche seiner Vaterstadt proclamirt … Da, als er eben zur Trauung abreisen will, empfängt er einen Brief von seinem ehemaligen Pseudo-Schwiegervater, des grausamen und höchst unerwarteten Inhalts: ‚Mein lieber Herr Hugo, Sie scheinen vergessen zu haben, daß ein gewisses, in London vom Kirchspielschreiber der Pfarrei von Marylebon ausgestelltes Document noch in meinen Händen ist. Sobald mir die Nachricht von Ihrer Verheirathung zugekommen sein wird, werde ich nicht ermangeln, besagte Urkunde der Staats-Anwaltschaft zu übergeben, mit dem Antrage, die Untersuchung wegen Bigamie gegen Sie einzuleiten!‘“

„O,“ rief Alwine fast erschrocken aus, „das wäre ja schrecklich für den armen Hugo, der ja durch den Verlust Helenens für seinen freilich etwas leichtsinnigen Streich gestraft wäre.“

„Ich denke, diese Wendung ist aber doch überraschend und – recht hübsch?“

„Gewiß, gewiß,“ fiel Alwine voll Eifer ein … „aber weißt Du, daß ich Dich bewundere? Das fließt Dir ja nur so von den Lippen, Du hast ja eine merkwürdige Erfindungsgabe, das hätte ich Dir wirklich nicht zugetraut, Ernst!“

„Nicht? Hättest Du nicht? Ich glaube, Du traust mir überhaupt nicht genug zu, Herz!“

„Dies wirklich nicht!“ sagte sie lächelnd und zärtlich ihre Wange an seine Schulter legend. „Aber was beginnt Hugo nun?“

„Was er beginnt? In der That, das ist schwer zu sagen. Was soll er beginnen? Seine Trauung in London war eine völlig nichtige, ohne Intention vorgenommene, auf eine Täuschung hinauslaufende, durch den Betrug ungültige; aber wie kann er dies beweisen? Die einzige Zeugin, jene Grisette, kann er nicht herbeibringen, denn wie sollte er sie wieder auffinden in der ungeheuren Stadt; vielleicht hat sie auch London längst verlassen.“

„Aber Helene … sie wird doch für ihn zeugen?“

„Helene? das ist’s eben, sie gilt vor Gericht nicht als unverdächtige Zeugin; ihr Zeugniß kann eine öffentliche Urkunde mit Stempel und Siegel nicht umwerfen, und die einzige Zeugin, die Hugo noch haben würde, seine Tante in London, ist todt … das heißt, wir müssen sie todt machen, ohne Gnade und Barmherzigkeit, und nun ist die Lage der Dinge so, daß Hugo es auf die Bigamie-Untersuchung nicht ankommen lassen darf, wirklich nicht!“

Alwine erhob sich und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. „Laß mich nur nachdenken,“ sagte sie, „ich denke, ich mache den Schluß so, daß Hugo seiner Braut entsagt, das wäre die poetische Gerechtigkeit …“

„Oder daß Du zum Schluß sagtest: ‚Lieber Leser, Hugo befindet sich heute in dieser fürchterlichen Lage, er weiß kein Auskunftsmittel, er ist der Verzweiflung nahe, daß so der Fluch der bösen That sein Lebensglück zerstört; du bist klug und einsichtig, lieber Leser, sinne du nach, gewiß hast du guten Freunden schon oft mit dem sinnreichsten Rath geholfen, hilf auch Hugo; überlege dir, was er thun muß, und schreibe es mir in frankirten Briefen, ich werde es ihm sicher zukommen lassen.‘ Ich meine, ein solcher Schluß wäre neu!“

Alwine schüttelte den Kopf.

„Ich will darüber nachdenken. Da wir so viel haben, wird sich der Schluß schon wohl finden. Denk’ auch Du nach. Der Stoff aber ist prächtig. Ich werde mich mit rasendem Eifer daran machen und ihn auszuführen versuchen. Wenn es mir gelänge! Würde es Dich nicht auch freuen, Ernst?“

„Freuen? Nun, wir Männer denken nicht alle gleich über das Thema der schriftstellernden Frauen. Ich, was mich angeht, möchte mich nicht in Widerspruch zu Deinen Neigungen setzen; ich habe Dir in Allem Deine völlige Freiheit gelassen, und wenn es Dir nun einmal eine Genugthuung ist, solch’ eine Geschichte zu schreiben, so fürchte ich, würde mein Protest auch die Lust zu diesem neuen Zeitvertreib nur schärfen; Evatöchter seid Ihr doch Alle! Lasse mir darüber nur nicht wieder den Braten anbrennen!“

„Wie kühl Du davon sprichst, nachdem Du mir doch selbst geholfen, den schönen Stoff zu erfinden!“

Ernst stand lächelnd auf, seine Cigarre war zu Ende und er schickte sich an, in sein Bureau zu gehen, um zu sehen, ob Posteinläufe da seien; in der Thür wandte er sich zurück und sagte: „Weißt Du wohl, daß auch eine Gefahr bei der Sache ist?“

„Eine Gefahr? Und welche? … wenn Du nicht anders wieder auf den langweiligen Braten zurückkommen willst.“

„Das nicht! Aber man hat oft gesagt, daß die kühnste Phantasie nichts ersinnen könne, was nicht schon oft dagewesen sei; daß man keine romanhaften Situationen erdichten könne, welche das Leben nicht noch viel merkwürdiger aufweise.“

„Das mag sein! Aber was thut das?“

„Was es thut? Es würde mich ängstlich machen. Ich würde beim Schreiben immer denken: Gott im Himmel, wenn ich nun da etwas schilderte, was sich wirklich ereignet hat, was die Personen, denen es geschehen, lesen werden, was mir ihre tödtliche Feindschaft zuzöge!“

Alwine lachte laut auf.

„Welch’ ein komisches Bedenken!“ rief sie aus. „Das nenne ich ängstlich sein! Ich glaube, Du willst mich abschrecken, und … der unglückliche Braten steckt doch dahinter!“

„Wirklich nicht!“ sagte Ernst mit schlauem Gesicht. „Es mag

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_668.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)