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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

dem Beobachter interessante Materialien zu physiognomischen Studien dar. Die Pferde werden, eins nach dem andern, von den Grooms aus den Ställen herbeigeführt und mit besonders kritischem Auge gemustert, indem sie der Wand entlang dem Auctionsbureau zulaufen.

Interessanter jedoch ist ein Blick in das innere Heiligthum des Tattersall, in den Subscription-Room, der, wie bereits bemerkt, seine Thür der großen Masse des Publicums verschließt. In Hinsicht auf die Privilegien des Subscription-Room ist nämlich der Tattersall ein Club, über dessen Mitgliedschaft das Ballot entscheidet, während die Höhe des Jahresbeitrags von fünfzig Pfund Sterling eine vorläufige Garantie gegen das Eindringen des Pöbels der Rennbahn darbietet. Ein mir bekanntes Mitglied kam meinem Wunsche, diese inneren Räume zu sehen, freundlichst entgegen. Es war während der dem diesjährigen Derby (dem Haupttage der Epsomrennen) folgenden Tage, einer derjenigen Epochen der Saison, wo der Tattersall gewissermaßen den Höhepunkt seiner Existenz erreicht. Bekanntlich giebt es wenige Vorkommnisse des Lebens, auf welche in England nicht gewettet wird. Man wettet auf Abstimmungen im Parlament, auf Bootfahrten, auf Hahnenkämpfe, auf die Ankunft der ersten Theeschiffe von China, auf die Orthographie zweifelhafter Worte, kurz auf alle möglichen Chancen aller denkbaren irdischen Dinge, die dem müßig speculirenden Sinn in die Quere kommen. Das allgemeinste Object dieser nationalen Wettlust ist aber unzweifelhaft der Derby, und nie stellt das charakteristische Wesen des Tattersall sich dem Besucher in frappanteren Zügen dar, als während der jenem ersten aller Wettrennen folgenden Tage.

Die Zugänge, der Vorhof, die Auctionshalle erinnern an die Erscheinung der Londoner Börse, wenn sie am vollsten ist, wenn eine commercielle Krise sie mit dem aufgeregten Gewühl, dem wirren Durcheinander kaufmännischer Speculanten füllt. Unter guter Führerschaft kann man an solchen Tagen in dem Tattersall von sämmtlichen Charaktergestalten des Turfthums eine ebenso vollständige Anschauung gewinnen, wie am Peters- und Paulstage in Rom von der Hierarchie des katholischen Kirchenthums. Denn daß die gesammte Turfgenossenschaft nach dem Tattersall strömt, um das große Ereigniß zu besprechen und die dadurch erledigten Wetten zu liquidiren, ist ebenso ausgemacht, als daß der Donner dem Blitze folgt. Das Rennen der Pferde, das Rollen des Glücksrades in dem großen Hazardspiel ist vorüber, und nach der Ordnung des Spiels müssen Gewinne und Verluste spätestens am zweiten Tage nach dem Rennen geregelt werden. So wimmelt denn der Tattersall von den mit diesem traurig-süßen Geschäft befaßten professionellen Buchmachern (book-makers) aller Grade: – Zugänge und Vorhöfe von der Masse der Outsiders, d. h. Nichtmitglieder, der Subscription-Room von den Insiders, d. h. den privilegirten Mitgliedern.

Turfkenner berechnen die an Derbytagen gewonnenen und verlorenen Summen auf Millionen von Pfunden. Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn Züge und Geberden der den Tattersall durchwogenden Menge an solchen Tagen das Pandämonium aller eine „Spielhölle“ bewegenden Leidenschaften im größten Maßstabe darstellen. Mancher ist vollständig ruinirt, mancher hat Verluste erlitten, die ihm den Bankerott vor Augen führen, Andere haben sich durch ein fein ausgeklügeltes Balancirsystem von Wetten freilich vor Verlusten gesichert, sind aber ungewiß, inwiefern sie auf Liquidirung ihrer Gewinne rechnen können; auf den Gesichtern noch Anderer flackert der Sonnenschein „guten Glückes“ und die Tasche voller Banknoten, mit sattem Lächeln kehren sie dem chaotischen Wirrwarr des Tattersall den Rücken.

Unter den „Buchmachern“ herrscht eine Art von Freimaurerei, ein Ehrengesetz, wonach die Schulden des Turf allen andern Schulden vorangehen, und wenn man den Aussagen der Turfmänner und den Berichten der Zeitungen Glauben schenken darf, werden die Wetten im Ganzen mit erstaunlicher Regelmäßigkeit erledigt. Doch zwischen den von größeren und kleineren Geldsummen klingenden Lauten der Unterhaltung hört man auch Töne des Scandals: wie die Zahlungsfähigkeit dieses Mannes bezweifelt wird, wie Jener sich irgendwo verborgen hält, um bessere Zeiten abzuwarten, wie ein Dritter vor seinen Gläubigern über den Canal entflohen ist. Das letztere Ereigniß ist übrigens der Gipfel der mit dem Tattersall verbundenen aufregenden Vorgänge; wenigstens habe ich nie von einem Selbstmord unglücklicher „Buchmacher“ gehört. Innerhalb des Subscription-Room wiederholen sich so ziemlich dieselben Scenen wie draußen, nur daß für größere Bequemlichkeit gesorgt und der gewöhnliche Haufe der Buchmacher verbannt ist. Die Wände des geräumigen Saales sind geziert mit Bildern sportsmännischer Celebritäten und berühmter Rennpferde. In der Mitte steht eine achteckige Masse von Bureau, wo Wetten in die Bücher eingetragen und, unter Vergleichung der Bücher, erledigt werden. Hier sieht man die jeunesse und auch die vieillesse dorée der englischen Aristokratie. Alles wimmelt von Herzögen, Marquis, Grafen, Lords, von dem beinahe noch bartlosen jungen Erben, der sich unter der Anweisung erfahrener Freunde und schlauer Agenten beeilt, einen großen Theil seines kolossalen Vermögens in dem fashionabeln Spiel der Rennbahn zu verschleudern, bis zu dem abgelebten Roué, welcher mit Bedauern auf die schönen Zeiten Georg’s des Vierten zurückblickt.

Allein auch hier fehlt es nicht an Turfhelden, die sich vor Allem durch ihre Abwesenheit bemerkbar machen. Die Bezahlung ihrer letzten unglücklichen Wetten geht über ihre Kräfte, sämmtliche Versuche, Geld zu erheben, sind fehlgeschlagen. Vergebens erwartet der glückliche Gewinner ihr Erscheinen. Ohne Resultat vergeht der erste, der zweite Tag nach dem Rennen, so daß endlich am dritten Tage die Ausbleibenden die schreckliche Strafe ereilt, die Strafe der Verbannung aus dem Tattersall, indem ihr Name als der von Wortbrüchigen (defaulters) an der schwarzen Tafel des Subscription-Room angeschlagen wird. Aus dem Subscription-Room führen einige Stufen in den Garten hinab, einem von einer Rennbahn umgebenen Stück Rasengrund, wo die Mitglieder sich versammeln, um Pferde vor der Auction laufen zu sehen und (bei günstigem Wetter) in dem berühmten Wettringe des Tattersall (eben jenem Rasengrund) auf die Chancen der bevorstehenden Wettrennen zu speculiren.

Dies sind einige der Hauptumrisse und Charakterzüge der Londoner Sportsmen- und Pferdebörse. Die weite Verbreitung der von diesem Mittelpunkt nach hunderten binnenländischer Rennbahnen und Wettringe und in zahllose Privatkreise übergreifenden Wirkungen, ihren Einfluß auf die Vertheilung und Circulation gewaltiger Geldsummen, auf den socialen Verkehr der Volksclassen und die Bildung des Volksgeistes im Einzelnen zu verfolgen, verbieten die Grenzen des uns gesetzten Raumes. Eine kurze Hinweisung auf einige noch unerwähnte, professionell mit dem Tattersall in Verbindung stehende Figuren, aus deren Mitte ich die Gestalten des Journalisten, des Agenten und des Turfpropheten auswählen will, mögen zur Ergänzung genügen.

Der Journalist des Tattersall hat das Geschäft des Berichterstatters der Börse. Tägliche authentische Nachrichten über den Preiscourant der berühmtesten Rennpferde, über die angebotenen und angenommenen Wetten, über die Menge der Besucher, über den Ton und die Gegenstände der Unterhaltung, kurz über sämmtliche nennenswerthe Vorgänge des Tattersall werden von ihm erwartet. Das Interesse an diesen Dingen ist so allgemein, daß nicht blos in den Sporting-Journalen, sondern in allen politischen Tageblättern der „Tattersall“ eine stehende Rubrik bildet, deren Abwesenheit sofort von Tausenden von Lesern würde vermißt werden. Die beschäftigtste Zeit des Journalisten (wie auch der Agenten und Turfpropheten) sind natürlich die Frühlings- und Sommermonate, so lange das Wetter die Rennbahn offen hält; aber ganz ohne Stoff ist er selten, obgleich sein Gebiet ungleich weniger ergiebig ist, als das seiner umherreisenden journalistischen Fachgenossen, die unter den Pseudonymen „Hotspur“, „Nimrod“, „Argus“ u. a. über die Ereignisse aller Hauptrennbahnen Berichte liefern. Da diese letzteren gründliche Kenner von „Pferdefleisch“ sein müssen, verbinden sie mit dem Journalistenamt gelegentlich auch das der Agenten und Turfpropheten, ohne jedoch der eigenthümlichen Stellung jener beiden Classen wesentlich Eintrag zu thun. Eine besondere Classe von Turfmänner bilden die sogenannten Tipsters, d. h. Leute die auf ein Rennpferd tippen, prophetisch darauf hinweisen, als den Sieger in einem bestimmten Wettkampf der Rennbahn. Manche Tipsters bieten ihre Dienste durch Annoncen feil: einen Schilling für eine Prophezeiung (tip), zwei Guineen für alle Hauptereignisse eines Turfjahres. Andere haben reiche Gönner und feste Engagements, reisen, kundschaften, correspondiren und telegraphiren von Ort zu Ort und leben herrlich und in Freuden, bis auch sie die Nemesis des Hazardspiels auf eine oder die andere Weise erreicht.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_719.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)