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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der uns zu einem ersten Versuch führt, den Bildungsgang der Frauen den akademischen Weg betreten zu lassen, und zwar geschah dies bei unseren germanischen Stammverwandten in Nordamerika.

Man fährt von New-York den Rhein der neuen Welt, den gewaltigen Hudson mit seiner Naturromantik, aufwärts, um nach Poughkeepsie zu gelangen, das unweit vom rechten Ufer des Stromes liegt. Die nicht mehr ganz junge Stadt zählt ungefähr fünfzehntausend Einwohner. Beliebt es uns, als rüstigen Fußgängern, eine etwa dritthalb englische Meilen lange Strecke trefflichen Wegs gegen Südost lustwandelnd zurückzulegen, so tauchen am Ende desselben vor unseren immer freudiger staunenden Augen die geschmackvollen Steinglieder eines Prachtbaus auf, eines städtischen Palastes mitten in der grünen lachenden Freiheit, umgeben von einzelnen anderen Gebäuden, denen man ihre Abhängigkeit vom Hauptbau auf den ersten Blick ansieht. Den Weg zum Hauptgebäude versperrt uns ein einfaches Wohnhaus, die Pförtnerwohnung.

Das Vassar-College.

Wir begehren Einlaß, erhalten die Erlaubniß zum Durchgang und stehen nun vor unserem Bilde, vor dem „Vassar-College“, in welchem wir die erste Hochschule für das weibliche Geschlecht in der neuen und vor der Hand in der ganzen Welt begrüßen; eine Frauen-Universität, die durch den Ausspruch des Staates selbst das Recht besitzt, in den Wissenschaften, die sie lehrt, Doctordiplome zu ertheilen. Was in Deutschland der Flug der kühnsten Frauenwünsche noch nicht erreichte, hier ist’s vollendete That.

Aus dem Munde des Pförtners erfahren wir, daß das isolirte Gebäude zur Linken hinter dem Hauptgebäude, das sich durch seine hohe Kuppel auszeichnet, die Sternwarte, und das zur Rechten die Reit- und Turnhalle der weiblichen Akademiker ist. Der Hauptbau hat eine Länge von fünfhundert Fuß; die an beiden Enden desselben hervortretenden Flügel sind je sechsundfünfzig Fuß breit und einhundertfünfundsechszig Fuß tief; der Mittelbau mit dem Thurm hat eine nach der Rückseite vortretende Tiefe von einhunderteinundsiebenzig Fuß. Dieses kolossale Gebäude enthält im Ganzen vierhundertsiebenundneunzig Räume, nämlich außer etwa vierhundert Wohn- und Schlafzimmern für die Schülerinnen der Anstalt eine Capelle mit siebenhundert Sitzplätzen, eine Bibliothek, eine Gemäldegalerie, ein Naturaliencabinet, dann die Unterrichtszimmer und Hörsäle, die Wohnungsräume des Präsidenten und Directors, der Professoren und Lehrerinnen, der Matronen und Haushälterinnen, ferner die nöthigen Küchen, Waschräume, Badezimmer, Bäckerei, Wohnungen für die Dienerschaft und die Geschäftszimmer für die Verwaltung der Anstalt. Das ganze Gebäude wird durch Dampf geheizt, durch Gas erleuchtet und durch eine Wasserleitung mit allem nöthigen Wasser versorgt. Letztere Einrichtung ist zugleich dazu benutzt, das Hauptgebäude so gut wie feuerfest zu machen. Sehr sinnig ist die Einrichtung der Wohnungen der Schülerinnen. Es münden nämlich je drei Schlaf- und zugleich Arbeitszimmer in ein gemeinschaftliches Wohnzimmer, so daß jedes der drei je zusammenwohnenden Mädchen sich zurückziehen oder mit den Colleginnen zusammenkommen kann, wie es will.

Der Morgen vereinigt alle Mitglieder der Hochschule in der Capelle zu einem kurzen Gottesdienst; eine treffliche Orgel von zweiundzwanzig Registern begleitet den Gesang. Der Tag gehört den Studien, dem gemeinsamen Mahle, den leiblichen Uebungen und dem Genuß der die Anstalt umgebenden Natur. Nach dem Abendessen versammeln sich die jungen Damen abermals zu einem kurzen Gebet und dann zu vertraulicher Unterhaltung über weibliche Angelegenheiten unter dem Vorsitz der Principalin der Anstalt. Männlicher Besuch ist dann ganz ausgeschlossen. Dagegen schließt der allgemeine Gottesdienst an den Sonntagnachmittagen alles confessionelle und Sectenwesen aus, eben weil unter den Zöglingen und Genossen der Anstalt alle Confessionen und Secten vertreten sind.

Das Leben der jungen Akademikerinnen kann sich allerdings nicht der akademischen Freiheit deutscher Studenten erfreuen; es herrscht vielmehr echt englische Strenge der Aufsicht bei allem Comfort der äußern Umgebung. Keine der jungen Damen darf ohne Erlaubniß fremde Besuche empfangen und keine sich ohne Begleitung einer Lehrerin in die nahe Stadt Poughkeepsie begeben oder überhaupt die Umgrenzung des College überschreiten. Selbst Verwandte werden zum Besuch nur im allgemeinen Besuchzimmer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_733.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)