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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Alle diese Zusammentreffen mit den preußischen Streifcorps trugen jedoch immer nur den Charakter des mehr Zufälligen an sich, die Hauptgefahr für die sich in Zwickau immer mehr aufhäufenden Transportmittel der sächsischen Bahnen drohte von einer ganz anderen Seite, der Schlag, welcher dagegen geführt werden sollte, war gut ausgedacht und zeigte, wie bald darauf der ganze Krieg, daß Preußen wie überall eine genaue Kenntniß aller einschlagenden Verhältnisse sowohl, wie aller wichtigen Punkte besaß.

Wenn man die Karte zur Hand nimmt, so sieht man, wie die Eisenbahn von Chemnitz über Zwickau führt und sich bei Werdau der Linie anschließt, welche Baiern oder Hof mit Leipzig verbindet. Von letzterem Schienenwege geht dann im Voigtlande bei der kleinen Station Herlasgrün eine andere, aber nur eingleisige Bahn links ab nach Eger oder Böhmen. Der Punkt nun hinter Werdau, wo die beiden Hauptlinien, welche von Leipzig und Chemnitz nach Böhmen und Baiern führen, zusammenlaufen, heißt die Werdauer Curve. Wurde sie vom Feinde besetzt, so war den in Zwickau massenhaft aufgefahrenen Wagen und Locomotiven die Flucht abgeschnitten. Und wie nothwendig diese Flucht eines so außerordentlich starken Transportmaterials war, sollte sich schon am 19. Juni zeigen. Dieselbe Landwehr, welche am frühesten Morgen dieses Tages (nach drei Uhr) ihren gemüthlichen Leiterwageneinzug in Leipzig hielt (vergl. Gartenlaube Nr. 28), besetzte damals sofort den sogenannten „Baierischen Bahnhof“ oder westlichen Staatsbahnhof und das Telegraphenbureau, stellte Posten aus, nahm alle noch vorhandenen Locomotiven (die meisten waren bereits nach Reichenbach in Sicherheit gebracht) sammt Wagen in Beschlag und bemächtigte sich des Frühzuges, welcher um vier Uhr vierzig Minuten nach Reichenbach abzugehen hat[WS 1] und schon reisefertig da stand. Nachdem der Führer der Expedition fertig war, d. h. Alles, was er vorgefunden, für erbeutet erklärt hatte, was bekanntlich sehr schnell geht, wurde eine zweite Maschine requirirt, um zur größeren Sicherheit, natürlich unter militärischer Bedeckung, dem von der Landwehr schon besetzten Zuge voranzufahren. So schnell aber auch das Alles vor sich ging, zwei edle Stunden waren dennoch verflossen, ehe das Abfahrtssignal ertönte; es schlug sechs Uhr, als der Zug die Halle verließ um das großartigste Dampfroß-Wettrennen zu beginnen. In Zwickau fühlte man die Nähe der großen Gefahr, so wie man zuweilen die Nähe eines hinter unserem Rücken befindlichen Menschen empfindet, ohne ihn zu sehen und zu hören. Auch war es von der Leipziger Seite her viel zu ruhig gewesen, als daß dies nicht Verdacht erregen mußte. Noch in der Nacht vom 18. zum 19. Juni lösten sich daher aus den großen dichtstehenden Wagenreihen lange Züge ab, von mehreren Schleppern (Maschinen mit großen Cylindern und also auch größerer Kraft) zugleich gezogen, darunter ganze Trupps Locomotiven, und fuhren ohne Aufenthalt nach Reichenbach i. V. Hier schon verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft der Preußen in Leipzig – und als ob sie wie ein Sturmwind in die Feuer der Kessel gefahren wäre, tobte plötzlich ein nie gesehenes Leben durch alle Dampfrosse mit ihren endlosen Wagenreihen – und fort ging’s auf der Bahn nach Hof.

Neunzehn Locomotiven mit mehreren hundert Wagen tobten dahin. Da spannt die Göltzschthalbrücke weit über tausend Ellen lang sich über den Abgrund, nur wenige Thürme Deutschlands erreichen die Höhe, auf welcher sonst die friedlichen Züge sorgfältig signalisirt und in gemildertem Laufe dahin ziehen, – aber heute rast es, wie die ganze Hölle selbst, mit felserschütterndem Toben immer näher und näher. Was ist das Stampfen, Schnauben und Wiehern der Rosse vieler Regimenter gegen diesen Wagendonner und dieses die Luft zerschneidende Pfeifen der Angst von solchen Rennern! Die Leute im Göltzschthale werden ewig an jene Nacht denken! Aus dem Schlafe aufgerissen, sprangen sie aus den Betten und liefen in’s Freie und schauten um sich, denn sie hörten zuerst nur ein Rauschen, wie wenn gewaltige Wasserfluthen heranwogen! Aber schaut nur dort oben, es funkeln feurige Augen, jetzt Pfiff auf Pfiff – es ist also doch ein Zug und kein Wolkenbruch, der das Toben zwischen Himmel und Erde verursacht. Ja, es war ein Bahnzug, aber welch ein Zug! Staunenden Auges konnten sie beim Zwielicht des Dämmermorgens die über die wundervolle Brücke dahinrollende endlose Wagenburg mustern. Welche mächtige, dicke Dampfsäule wälzt sich hinter ihr her, bis sie dort in der Krümmung bei Netzschkau verschwindet! Aber nun folgt Wagenreihe an Wagenreihe, Zug um Zug! Sie kommen von Zwickau. Dort flieht Alles, denn der Feind ist ja schon in Leipzig und naht auf den Flügeln des Dampfes.

Wirklich war der früh von Leipzig abgegangene Landwehrzug währenddem gegen dreiviertel sieben Uhr in Altenburg angekommen, und er fuhr in demselben Augenblicke in die Halle ein, als der trotz alledem ordnungsgemäß von Hof gekommene Postzug eben im Begriff war, pflichtgemäß nach Leipzig weiter zu fahren. Da versah es der in der Halle anwesende altenburgische Officier, welcher die schöne Gelegenheit benutzen wollte, den Postzug zu arretiren. Er machte die Bahnbeamten zu bald auf die drohende Gefahr aufmerksam, indem er den eben aussteigenden Landwehrmännern zurief: „Hierher, Landwehr, hierher! Fest, Landwehr, fest!“ Aber ein Eisenbahnzug läßt sich nicht so leicht halten, wie eine Katze am Schwanze, und dieser wartete dies auch nicht ab, er war zum Thore hinaus, ehe ihn die preußischen Krieger noch recht beschauen konnten, und jagte rechts abschwenkend zurück nach Gößnitz, Crimmitzschau, überall alarmirend, und ebenfalls nach Werdau. Hier stand schon Alles zur Abfahrt fertig, in kurzer Zeit war der dichtbesetzte Bahnhof wie abgekehrt, fünfundzwanzig Locomotiven und lange Reihen Wagen befanden sich abermals auf der tollsten Flucht, und die letzte Maschine fuhr in dem Augenblicke davon, als auf der anderen Seite der dem preußischen Streifzuge vorausziehende dampfende Vorreiter sichtbar wurde.

Jetzt begann ein Rennen, von welchem sich Niemand eine Vorstellung machen kann; die fliehenden Werdauer Züge schlossen sich hinter der Werdauer Curve da, wo die beiden Eisenbahnlinien in eine zusammenlaufen, den letzten flüchtenden Zwickauern an und der Schreckensruf: „Der Feind ist da, er kommt!“ flog unterwegs von Wagen zu Wagen. Die Maschinen arbeiteten, um Vorsprung zu gewinnen, mit aller Kraft, und die Züge rasten dahin mit Windeseile, und zwar jetzt auf beiden Geleisen zugleich und wieder über die Abgründe des Elster- und Göltzschthales auf den schwindelnden Brücken! Die ganze vier Meilen lange Strecke von Werdau bis Herlasgrün war mit fliehenden Zügen und Locomotiven bedeckt; zwei von Hof und von Eger kommende Personenzüge, welche dieser Fluth entgegenkamen, mußten schleunigst umkehren und verkehrt auf und davon fahren, da an kein Halten zu denken war. Alle Ordnung hatte aufgehört, überall die bunteste Reihe, schöne Salonwagen erster und zweiter Classe, Kohlenlowries, Holz-und Postwagen untereinander, hier ein ganzer Zug rußiger Maschinen, Tiger, Bär, Strauß, Wallroß, Giraffe, Nashorn und Gazelle im friedlichen Verein halten sie Schritt, und was für einen Sturmschritt! eins, zwei, drei, vier, und vorbei sind hundert Ellen. Es war eine ganze Armee fliehender Wagen, ein Zug folgte dem anderen in kurzen, wenige Ellen betragenden Abständen: der Lärm der rollenden Räder, die unaufhörlich warnenden Töne der Dampfpfeifen, das Knarren und Schleifen der Bremsen das Krachen und Poltern der Wagen und das Klirren der Ketten, dazu eine dicke, große und schwere Rauchsäule welche von Zeit zu Zeit Alles einhüllte, machte einen großartigen Eindruck. Selbst dem besonnensten Mann wurde unheimlich zu Muthe beim Anblicke dieser brausenden Schaaren, denn bei dem wilden Durcheinander hing das schrecklichste Unglück nur lose über jeder Achse.

Da zog es hin, ein fliehendes Heer, und verkündigte donnernd den Krieg, Ruhe und friedliches Glück schien auf den leeren Wagen aus dem Lande zu ziehen.

Aber o weh! in Reichenbach gerieth die Fluth in’s Stocken, es mangelte plötzlich an Wasser. Der tausend Ellen lange und sehr breite Bahnhof war mit Zügen wie überschwemmt, und die Kraft, welche diese massigen Reihen in Bewegung setzen sollte, schlummerte noch in dem weit entfernten großen Wasserreservoir der Stadt. Es entstand eine unbeschreibliche Unruhe. Nachdem man die ganze Nacht gewacht, gearbeitet und sein Leben in dem gar nicht zu übersehenden Treiben auf den mit hin- und herfahrenden Zügen bedeckten Geleisen oft auf’s Spiel gesetzt hatte, um nur die Wagen noch fester aneinander zu fügen, sollte diese ganze große Wagenburg dennoch in fremde Hände fallen? Nein, man eilt hinaus auf die Höhen, bereit, beim ersten von Werdau kommenden Signal die Schienen aufzureißen, man stürzt nach dem Wasserbehälter und leitet das ganze für die Stadt Reichenbach bestimmte Wasser nach dem Bahnhof; jetzt floß es wieder, Muth und Hoffnung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bat
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_738.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)