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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und seinem nicht zu beirrenden Gewissen revoltirte er jedesmal gegen die ihm abgedrungenen Zugeständnisse, und alle seine Staatsschriften beweisen es, daß er zwar stets, wie ein rechter amerikanischer Demokrat, der öffentlichen Stimme Gehör gegeben, aber doch nur so, wie er selbst sie zu vernehmen glaubte, und nicht, wie sie ihm von Zudringlichen oder Interessirten ausgelegt worden war. Aus allen seinen Proclamationen und Botschaften spricht etwas so Eigenthümliches, daß darüber kein Zweifel herrschen kann, wie an der Schwelle des Heiligthums seiner Pflichten und seines Gewissens jeder vergänglichen Beeinflussung Halt geboten worden war. Daß ein Mann von so stark gezimmertem Gewissen furchtbar leiden mußte, wenn er gerade dort, wo er sich vollkommen unerschütterlich glaubte, einen Stoß erhielt, ist sehr wohl begreiflich … aber nahezu vernichtet hat es ihn, als er einst an einer für echt gehaltenen tiefen Leidenschaft zweifeln zu müssen glaubte und als ihm gerade im Moment, da seine Zweifel gelöst waren, der unbarmherzige Tod sein kaum gewonnenes Glück wieder entriß.

Unmittelbar nach dem Tode Lincoln’s wurde in allen Zeitungen ein Gedicht verbreitet, das jetzt allgemein unter dem Namen „Unsterblichkeit“ bekannt ist und das auch häufig nach seinen ersten Verszeilen citirt wurde: „Warum doch auch ist der sterbliche Geist so stolz!“[WS 1] und man ging sogar so weit, das Gedicht, das von einem schottischen, so viel ich weiß, sonst wenig bekannten Dichter[WS 2] herrührt, dem Präsidenten selbst zuzuschreiben. Lincoln hatte es, so sagte man, fast täglich einmal gelesen, aber nichts erklärte die Vorliebe des im Uebrigen als durchaus unpoetisch bekannten Mannes für ein paar Strophen, in denen, nicht einmal auf eine besonders ergreifende Weise, der Gedanke ausgesprochen war, wie der Tod keine Größe achtet, aber auch die zartesten und unbedeutendsten Existenzen seiner Sichel nicht für unwürdig hält. Jetzt weiß man, daß es hauptsächlich die folgenden zwei Verszeilen waren, die er wohl dem Gegenstande seiner ersten unvergeßlichen Liebe für vollkommen entsprechend hielt: „Das Mädchen, deren Brauen, deren Wangen, deren Augen Freude und Schönheit strahlten, – da liegen ihre Triumphe!“[WS 3]

Und so war es. Während der Jahre 1830 bis 1837 lebte Lincoln im Hause eines Herrn Cameron in Neu-Salem, des Associé von einem gewissen Rutledge. In diesem Hause machte er die Bekanntschaft eines reizenden Mädchens. Anna Rutledge war eine Landsmännin Lincoln’s, denn gleich ihm war sie in dem stolzen Staate Kentucky geboren. Im Jahr 1830 war sie siebenzehn Jahr alt. Enkelin des patriotischen, freiheitbegeisterten James Rutledge von Kentucky und Tochter eines hochgeachteten und gebildeten Mannes gleiches Namens, hatte sie eine dem Stande ihrer Vorfahren entsprechende Erziehung genossen, und wie mir Freunde ihrer Familie versicherten, besaß das junge Mädchen in der That gerade jene Gaben des Geistes, des Körpers und der Erziehung, die ihre Anziehungskraft auf besonders von der Natur bevorzugte Männer niemals verfehlen. Lincoln war im Jahr 1834 auf’s Engste mit ihr befreundet, hatte sie aber offenbar schon einige Jahre vorher gekannt. Denn eine plötzlich mit voller Gewalt auftretende Leidenschaft lag nicht in der Gemüthsart Lincoln’s und er bedurfte offenbar einer längeren Bekanntschaft, um sich so vollkommen in das Wesen des reizenden Geschöpfes zu vertiefen, daß er sie, wie er es gethan zu haben scheint, für die ihm vom Schicksal auserlesene Ergänzung seines eigenen Selbst gehalten. Während dieses längeren Umgangs, welchen Lincoln zur vollen Aufklärung über seine eigenen Empfindungen brauchte, geschah es nun, wie dies so natürlich war, daß sich viele andere junge Männer um Miß Anna Rutledge bewarben, und namentlich waren es zwei vortreffliche Männer, welche beide später bedeutende Rollen in der Geschichte ihres Vaterlandes spielten, die direct um die Hand des jungen Mädchens anhielten.

Von diesen scheint der eine, ein wackerer, aber heftiger, rauher Charakter, der feinfühlenden Kentuckierin so antipathisch gewesen zu sein, daß sie ihm von vorn herein jede Hoffnung auf Gegenseitigkeit der Neigung abschnitt. Dagegen überwältigten sie die Bewerbungen des andern, der als ein äußerst gewandter, schöner und dabei hochgebildeter Mann geschildert wurde, dergestalt, daß sie ihm ihre Hand versprach, wenn er die ihrem Stande entsprechende Stellung errungen haben würde. Von diesem Verhältnisse scheint Lincoln, dessen Scharfblick für solche Dinge ohnehin nicht sehr groß gewesen, nicht das Geringste geahnt zu haben. Denn wenn er auch vielleicht an eine Heirath noch nicht dachte, so setzte er seine Besuche so ununterbrochen fort, als wäre er ihr so nahe wie jeder Andere, und gab sich, wie er es nicht anders konnte, so vollkommen als der rechtschaffene, liebenswürdige, aufrichtige, leutselige Mann, der er war, daß absichtslos von beiden Seiten sich eines jener tiefen Verhältnisse entspann, die außer dem Tode nichts auf Erden lösen zu können scheint. Ihr erstes Versprechen völlig vergessend und offenbar ohne Lincoln auch nur ein einziges Wort davon mitzutheilen, verlobte sie sich auch mit ihm in einer jener vielen glücklichen Stunden, die den amerikanischen Mädchen mit männlichen Altersgenossen außer dem Beisein ihrer Eltern zu verleben nach der Landessitte gestattet ist.

Wer den Charakter des Geschlechtsverkehrs in den Vereinigten Staaten kennt und wer namentlich von der zweifellosen Sittsamkeit der Geliebten Lincoln’s, wie ich es bin, überzeugt ist, der wird in diesem doppelten Versprechen weder Frivolität noch Koketterie finden. Es ist wahr, daß Aehnliches häufiger in diesem Lande als in Deutschland vorfällt, aber in hundert Fällen ist ein solches Doppelversprechen kaum ein einziges Mal dem Leichtsinn oder bloßer Veränderlichkeit zuzuschreiben. Denn da im hiesigen Menschenschlag überhaupt der Verstand das vorherrschende Element ist und Schwärmerei und Sentimentalität durchaus keine Charakterzüge der Amerikaner sind, so sehen unsere Mädchen auch ein Liebesverhältniß sogar bei der tiefsten Leidenschaftlichkeit immer noch zu gleicher Zeit als die Präliminarien eines verstandesmäßig abzuschließenden Gesellschaftsvertrages für das ganze Leben an. Ueber der Leidenschaft thront doch immer der Verstand. Weder Jüngling noch Jungfrau haben den deutschen Glauben, daß es gerade dieser oder diese und kein Anderer und keine Andere sein könnten, die sich zu einer Ehe verbinden, sondern Beide halten es bis zum letzten Augenblicke für möglich, daß immer noch ein Anderer für sie passender sein könne. Nur beherrscht auch hier in allen Geschlechtsbeziehungen das Weib so sehr den Mann, daß sich dieser durch das leiseste Versprechen schon für unwiderruflich gebunden ansieht, während das Weib das feierlichste Versprechen ungestraft, ja selbst nicht im Allergeringsten von der öffentlichen Meinung deshalb geahndet, zurücknehmen kann. Dazu kommt, daß in Deutschland die Frau stets seinen directen Antheil an dem Geschäfte ihres Mannes nimmt. Sie ist also im verheiratheten Stande die Mitbegründerin ihrer Häuslichkeit und ihres Glücks. Bei ihr fällt daher die einseitige Rücksicht auf die äußere Lage des Mannes viel weniger ins Gewicht, als bei der Amerikanerin, die sich nur ausnahmsweise um den Beruf ihres Mannes kümmert, die aber der Landessitte nach sich in einer gewissen, allen anderen Frauen ähnlichen Sphäre von Wohlleben befinden muß, um sich glücklich zu schätzen. Es ist daher ein sehr erklärliches Bedenken aller unserer Mädchen, welches jedoch wahre Liebe durchaus nicht ausschließt, daß sie durch ihre Heirath weder unter ihr bisheriges noch unter das allgemeine Niveau von Comfort und Lebensgenüssen ihrer Schwestern kommen. Bei den Männern fallen diese Bedenken weg, und darum ist auch aus diesem Grunde ihre Sinnesänderung nicht gerechtfertigt.

Doch sind diese Erwägungen kaum nothwendig, um den Wechsel der Gesinnung der armen Anna zu rechtfertigen, wenn ein solcher überhaupt bestand. Alle äußeren Vortheile lagen ja so vollkommen in ihrer Treue zu ihrem ersten Verlobten, daß sie jeder Unbefangene sie von aller Berechnung wegen ihres zweiten Versprechens lossprechen muß. Denn Lincoln war damals so arm und so aussichtslos in Bezug auf irgend eine bedeutende Lebensstellung, als dies überhaupt ein Amerikaner sein kann. Dazu war er nach der Aussage seiner Altersgenossen als junger Mann noch viel häßlicher als später, wo der Ernst des Lebens und tiefes Leid ihm jenen unverkennbaren Zug des Wohlwollens aufgedrückt, der das Unschöne seiner ganzen Erscheinung augenblicklich in den Hintergrund drängte.

Im Gegentheil liegt in dem traurigen Ausgang dieser unseligen Verwirrung der Schlüssel zu so tief tragischen Motiven und eine so vollkommene Versöhnung, daß die obigen Erklärungsgründe füglich unerwähnt gelassen werden könnten, wenn sie nicht zur bessern Würdigung der amerikanischen Lebensanschauungen Seitens meiner deutschen Landsmänninnen dienen würden.

Kaum war nämlich das zweite Versprechen gegeben, als sich der armen Anna eine unaussprechliche Angst bemächtigte. Wahrhafte Hochschätzung und tiefe Erkenntniß des Wesens beider Männer hatte sie in ein Doppelverhältniß gebracht, aus dem sich

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Oh, why should the spirit of mortal be proud.
    siehe: Abraham Lincoln's Favorite Poem Beginn erster Vers
  2. William Knox, 1789–1825, (englisch);
    Originaltext nach: Nathaniel Kirk Richardson, „One hundred choice selections in poetry and prose“, 1866, S. 7 f. Google
  3. The maid on whose cheek, on whose brow, in whose eye,
    Shone beauty and pleasure – her triumphs are by;

    siehe: Abraham Lincoln's Favorite Poem Beginn vierter Vers
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_026.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)