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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ein Armeecorps darauf hätte manövriren können. Auffällig waren mir die Hunderte kleiner hölzerner Sommerhäuschen, die sich, eines dicht am andern, rings um die unendliche Rasenfläche zogen.

„In diese Häuschen,“ sagte der Gouverneur, der die Frage in meinem Blick gelesen haben mochte, „pflegen wir in der schönen Jahreszeit diejenigen unserer kleinen Zöglinge zu quartiren, für welche ein möglichst ungehinderter Genuß der frischen Luft gerathen scheint. Es sind Luftbuden im Kleinen, und die Kinder lieben dieses Zelt- und Bivouacleben so sehr, daß sich immer eine Menge Candidatinnen dafür melden, die freilich nur zum kleineren Theile erhört werden können. In die Schulzimmer,“ fuhr er fort, „führe ich Sie nicht, sie sind heute zum Festtag sämmtlich leer und öd. Und so wie das hier,“ bemerkte er weiter, indem er eine Thür der Galerie öffnete, „sehen sie alle aus. Dahinein aber werfen Sie einen Blick.“ Er that eine andere Thür auf, die uns ein großes viereckiges Gemach erschloß, dessen vier Wände hohe Glasschränke garnirten, welche von oben bis unten mit Puppen aller Art und Größe gefüllt waren. Eine Puppenversammlung, zahlreicher als die der größten Nürnberger Spielwaarenhandlung.

„In diesem Saale,“ erklärte mir der Gouverneur, „verwahren wir das Spielzeug für die kleineren unserer fünfundzwanzigtausend Kinder, und hier,“ er zog ein Schubfach in einem der Schränke auf, „finden Sie Modelle der verschiedenartigsten Geräthe und Werkzeuge. Auf der Tafel dort haben Sie unsere bekanntesten Säugethiere, Vögel, Fische in genauen plastischen Nachbildungen; unsere Kinder lernen daraus besser, als aus Büchern, und jubeln immer, wenn sie classenweise in den Saal geführt werden und jedes sich sein Lieblingsspielzeug selbst aussuchen darf. – Doch es ist Zeit, daß Sie ein Glas Thee mit mir trinken, auf russische Manier, wissen Sie, mit Citrone. Auch müssen Sie unsere Hausmutter, die Mutter unserer gesammten Kinderwelt, die erste Matrone, wie wir sie officiell tituliren, kennen lernen. Kommen Sie mit zu ihr; dort können wir noch ein Stündchen ungestört plaudern und Sie sich über unsere Anstalt Alles aufzeichnen, was Ihnen bemerkenswerth erscheint. Fragen Sie nach Herzenslust; wir freuen uns nur zu sehr, wenn wir von unserm Wospitatelnoi-Dom erzählen können.“

Gern folgte ich der freundlichen Einladung. Das Zimmer der Hausmutter war ein höchst elegant meublirter Salon und die Hausmutter selbst eine stattliche alte Dame von vollendeter Weltbildung, die mit der liebenswürdigsten Grazie die Honneurs machte.

„Streng genommen,“ begann sie, nachdem ich mich ihr gegenüber in einem bequemen Fauteuil niedergelassen hatte, während ein reichgalonnirter Lakai den Thee präsentirte, „können wir unser Wospitatelnoi-Dom kein Findelhaus nennen; denn wir nehmen, ohne weiter nach dem Woher zu forschen, alle Kinder auf, die uns gebracht werden, vorausgesetzt, daß sie ein bestimmtes Alter noch nicht überschritten haben. Sommer und Winter, Tag und Nacht steht die Pforte der kleinen Loge unten in der Halle offen, wo wir die Kinder empfangen. Im Durchschnitt kommen auf jeden Tag dreißig Kinder, für die man bei uns Herberge und Pflege sucht. Niemand ist gezwungen, uns den Namen der Mutter oder der Eltern zu sagen; ebenso braucht Niemand auch nur eine Kopeke für Unterhalt und Erziehung der uns übergebenen Kinder zu bezahlen. Wer aber jährlich dreißig Rubel entrichtet, kann verlangen, daß sein Kind nicht aus dem Hause zu einer unserer Landammen gegeben, sondern lediglich in der Anstalt selbst verpflegt wird. Wer von den Knaben die Summe von zweihundert und fünfzig Rubeln mitbringt, wird zum Officier, Ingenieur u. dergl. ausgebildet; die ganz mittellosen werden später fast ohne Ausnahme gemeine Soldaten. Unsere befähigtsten Schüler bereiten wir auf eine spätere Universitätsbildung vor; mehrere der ausgezeichnetsten Aerzte Moskaus z. B. sind aus unserer Anstalt hervorgegangen. Zunächst wird jedes Kind numerirt, registrirt und getauft – was immer alsbald nach der Aufnahme geschieht – darauf ihm eine Marke mit Namen und Nummer um den Hals gehangen, ein Duplicat dieses Zeichens aber der Person eingehändigt, welche es uns gebracht hat, damit es eventuell reclamirt werden kann, wenn es einmal einundzwanzig Jahre alt geworden ist. Aus den entlegensten Theilen Sibiriens, aus Bessarabien, aus dem Kaukasus und aus der Krim haben wir Kinder im Hause. Leider stirbt uns ein Viertel davon in den ersten sechs Wochen, und mehr als die Hälfte überhaupt in den ersten sechs Jahren. In Petersburg, dessen von Katharina der Zweiten 1770 gegründetes Findelhaus dem unserigen nur wenig nachgiebt, ist das Verhältniß noch ungünstiger, denn dort fehlt es unter der meist sehr dürftigen Landbevölkerung an kräftigen, gesunden Ammen, an denen wir im Allgemeinen keinen Mangel haben.“

Es war inzwischen spät geworden und, obschon ich der Anstalt und ihren Einrichtungen nur eine sehr flüchtige Besichtigung hatte widmen können, über dieser doch eine Zeit von fünf Stunden verflossen. Ich durfte meinen freundlichen Cicerone nicht länger bemühen; überdies decretirte mein unerbittlicher deutscher Lohndiener noch einen Besuch im großen Simonoffkloster, das ebenfalls viel Interessantes bieten sollte. Mit herzlichem Dank schied ich denn von Gouverneur und Hausmutter, zugleich mit der aufrichtigen Versicherung, daß mir Wospitatelnoi-Dom nicht blos als ein staunenswerther Koloß, sondern als eines der bestorganisirten und verwalteten philanthropischen Institute erschienen, die ich je gesehen hatte, als ein Institut, das seine Aufgabe nach allen Seiten bin vortrefflich erfüllt, womit freilich die Bedenken, die sich aus Gründen der Moral und der Volkswirthschaft gegen das ganze System der Findelhäuser erheben lassen, nicht beseitigt werden.




Blätter und Blüthen.


Eine Wolfsjagd in Siebenbürgen. Sie haben (so schreibt uns ein Freund der Gartenlaube aus Siebenbürgen) diesen Winter auch in Deutschland, an der rheinisch-belgischen Grenze von zeitweiligen Besuchen hungriger Wölfe zu leiden und so Gelegenheit zu einer seltenen Jagd gehabt; es interessirt daher wohl Sie und die Leser Ihres Blattes, wenn ich Ihnen in den nachstehenden Zeilen eine Wolfsjagd schildere, wie ich ihr unlängst in unsern transylvanischen Bergen beigewohnt habe.

Die ersten Tage des letzten November waren überaus freundlich und warm, plötzlich aber schlug das Wetter um und in wenigen Stunden hatte sich eine dichten weiße Schneedecke an die kalte Mutter Erde geschmiegt. Bald jedoch schmolz der Schnee wieder und blieb nur auf den Gebirgen, in versteckten Schluchten und in den Wäldern liegen. Durch diesen Schneefall gezwungen, mußte meine Heerde Zigaischafe, welche in den höheren Gebirgsgegenden auf der Weide war, herabgetrieben werden und weidete nun – da es der in Folge von Ueberschwemmungen karge Heuvorrath gebot – an einer sonnigen Berglehne, Vurfu genannt, den spärlichen Graswuchs ab.

Ich saß eben in meinem Arbeitscabinet, als mir mein erster Schafhirt gemeldet wurde, welcher mich allsogleich zu sprechen verlangte. Sofort trat er auch in seinem großen Schafpelze, die Mütze aus schwarzem Lammfell in der Hand, ein, begrüßte mich und senkte dann den Kopf.

„Was giebt es denn Wichtiges?“ fragte ich den Mann, denn aus dem Senken seines Kopfes und dem Stillschweigen schloß ich, daß seine Nachricht eine angenehme eben nicht sein müsse.

„Wie der Herr weiß, so weiden unsere Schafe oben am Vurfu – und da ist denn – da haben wir denn – der Herr weiß ja, der Wald ist da gar nahe.“

„Jawohl, und –“

„Da ist denn ein riesiger Wolf herausgebrochen, hat den besten Hund todtgebissen und, bis wir herangeeilt, das schönste Mutterschaf aus der Heerde herausgeholt. Bevor wir demselben noch recht nachsetzen konnten, war er schon im Walde verschwunden!“

Als der Schafhirt seinen Bericht geendet, ließ er den Kopf abermals sinken und seufzte, als ob ihm eine schwere Last vom Herzen genommen worden sei.

„Ist dies denn das ganze Unglück, Basil?“ fragte ich ihn lächelnd.

„Ach, Herr, ich gäbe viel darum, wenn es nicht geschehen wäre. Die Schuld daran trage ich bei allen Heiligen nicht; ich konnte es unmöglich verhindern. Doch,“ fügte er nach einer Pause hinzu, „der Wolf könnte bald wiederkommen, deshalb bitte ich den Herrn, mir ein Gewehr verabreichen zu lassen.“

„Um den Wolf zu erlegen?“

„Jawohl, Herr, ich fürchte auch, daß dieser nicht der einzige ist, der im Vurfu steckt!“

„Wie lange können die Heerden noch am Berge Futter finden?“ fragte ich den Hirten rasch.

„Etwa zwölf Tage, falls das Wetter nicht umschlägt, Herr.“

„Gut. Dafür, daß die Heerde weiter keiner Gefahr ausgesetzt sei, werde ich noch heute Sorge tragen. Um welche Zeit erscheint das Raubthier?“

„Zwei Stunden vor Mitternacht etwa, Herr.“

„Ganz recht, so erwartet mich diesen Abend in Eurer Lagerhütte; ich werde in Begleitung der Schützen aus dem Dorfe hinaufkommen. Zugleich soll morgen der Vurfu durch eine Treibjagd gesäubert werden.“

„Wie Du befiehlst, Herr! Habe ich sonst nichts zu bestellen?“

„Nein, Basil.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_126.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)