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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

hungerten schon seit längerer Zeit. Ich ahnte nun die Absicht meines Vaters, meinen fast erliegenden Geschwistern Speise zu verschaffen … und … so ist’s geschehen, wie ich und der Vater es schon erzählt haben.“

„So scheint Euch also die Noth zu der That veranlaßt zu haben …“

„Nur die Noth, die bitterste Noth,“ fiel der Alte dem Vorsitzenden in das Wort. „Ach, meine Herren, wenn Sie Weib und Kinder haben, werden Sie sich denken können, was es heißt, die Seinigen vor Hunger weinen zu sehen. Ich habe spät geheirathet und außer meiner Tochter noch fünf jüngere Knaben. Dazu meine alte achtzigjährige Mutter, die seit vierzehn Jahren gelähmt ist. Und nun die Noth und Theurung des letzten Jahres, die uns zwang, die einzige Kuh und alles Hausgeräth zu verkaufen, bis endlich nichts, nichts mehr übrig war. Ich arbeitete, so viel ich konnte, mein Weib und meine Tochter halfen, – aber auch die Arbeit hörte in Folge des Krieges endlich auf, die mir, dem alten und durch jahrelange Entbehrungen mürbe gewordenen Manne, ohnedies nicht mehr so bezahlt wurde wie den jüngeren Leuten mit kräftigen Armen. So ging es bis einige Tage vor dem Diebstahl. Da wurden die letzten Kartoffeln gekocht, die nicht mehr ausreichten, uns zu sättigen, – dann hungerten wir zwei Tage lang. Ich hielt es schweigend aus, auch mein Weib und meine Tochter trugen es still, aber die Jungen klammerten sich an mich und schrieen: „Vater, laß uns nicht Hungers sterben!“ Und meine Mutter, meine arme, alte Mutter, – sie bat Gott flehentlich um ein baldiges Ende. Mein Weib rieth mir, meiner Mutter Bett, – das Einzige, was wir noch hatten, – zu verkaufen, aber sollte ich der ihr Sterbelager entziehen, die mir das erste Lager bereitet hat? Das hätte mir Gott, wie ich glaube, trotz seiner Barmherzigkeit nicht vergeben. So ist es gekommen, Herr Präsident, daß ich die That beging; ich habe die reine Wahrheit gesagt, als ob ich vor Gott stände. Ich bin schuldig, ich weiß es wohl, strafen Sie mich, so hart Sie wollen. Aber meine Tochter, mein armes, unglückliches Kind – ach, machen Sie das nicht für ewig elend! Lassen Sie mich für sie büßen!“

Das preußische Strafgesetzbuch[1] gestattet in sehr vielen Fällen dem Richter nicht, ein Vergehen mit Berücksichtigung aller dabei obwaltenden besonderen Umstände zu beurtheilen und darnach die Strafe zu bemessen. Es hat nicht allein, wie es vollkommen gerechtfertigt ist, die äußerste Höhe des Strafmaßes, sondern auch – und hierin liegt sehr häufig und namentlich bei den Vergehen gegen das Eigenthum und gegen die Sittlichkeit eine Beschränkung des richterlichen Arbitriums, deren Beseitigung im Interesse der Gerechtigkeit nicht dringend genug empfohlen werden kann – nach der andern Seite hin eine Schranke gezogen und ein sogenanntes niedrigstes Strafmaß fixirt, unter welches der Richter nicht heruntergehen darf, mag auch der concrete Fall noch so entschieden eine noch mildere Beurtheilung des Thäters in Anspruch nehmen und mag sich das Gefühl des Richters noch so sehr sträuben, eine Strafe zu verhängen, die mit dem wirklichen Verschulden sich nicht vereinbaren und die Gerechtigkeit eben nur als eine formelle erscheinen läßt. So ist von Thätern und Theilnehmern an einem mittels Einbruchs und Einsteigens in einem bewohnten Gebäude verübten Diebstahl eine mindestens halbjährige Gefängnißstrafe nebst verschiedenen Zusatzstrafen verwirkt[2] und demgemäß lautete denn auch der Strafantrag des Staatsanwalts gegen Vater und Tochter, da es nach dem offenen und der Anklage überall entsprechenden Geständniß Beider einer Beweisaufnahme nicht bedurfte.

Während der Gerichtshof sich zurückgezogen hatte, um die Entscheidung zu fällen, näherte sich der Staatsanwalt dem Alten, der seinen Kopf wieder in die Hände hatte sinken lassen und wie gebrochen auf der Anklagebank saß, drückte ihm in herzlicher Weise sein Mitgefühl aus und forderte ihn auf, die Gnade des Königs anzurufen, die ihm und seiner Tochter sicherlich zu Theil werden und, wenn auch vielleicht nicht den Erlaß der ganzen Strafe, doch eine erhebliche Herabsetzung derselben zur Folge haben würde. Der alte Mann dankte innig gerührt für den wohlwollenden Rath. „Aber,“ fuhr er fort, „was mich betrifft, so lassen Sie mich die Strafe verbüßen, wie sie mir auferlegt wird. Das Herz meines Königs, ich weiß es wohl, ist milde und zur Barmherzigkeit geneigt. Aber was hälfe es, wenn er gegen mich Gnade für Recht ergehen ließe! Er kann die That selbst nicht ungeschehen und mich nicht wieder ehrlich machen, – und das bleibt doch die Hauptsache. Außerdem wird sich meine Familie leichter durchschlagen, wenn ich nicht bei ihr bin, denn ich verdiene weniger und brauche eben so viel wie ein jüngerer Mann. Für mich ist das Gefängniß der beste Platz, – vielleicht bringt es mich schneller an unser gemeinsames Ziel, wo auch dem Aermsten eine freundliche Stätte bereitet ist. Nur meine Tochter, das unschuldige Kind, die muß den König bitten! Sie darf nicht mit Mördern und Spitzbuben zusammengeworfen werden, – das hieße sie verderben an Leib und Seele.“

Die Richter traten wieder ein und das Urtheil wurde gemäß dem Antrage des Staatsanwalts verkündet: Vater und Tochter – sechs Monate Gefängniß, Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter polizeiliche Aufsicht auf die Dauer eines Jahres! Der Alte hörte den Spruch mit stiller Ergebung an, aber das Mädchen konnte den tiefen Schmerz nicht beherrschen. Mit einem Schrei des Entsetzens über die harte Strafe fiel sie ihrem Vater um den Hals, hielt ihn lange unter dem heftigsten Schluchzen umfaßt und bat dann, indem sie ihn streichelte und küßte, als ob nur er des Trostes bedürfe, die Richter flehentlich, man möge ihr gestatten, auch die ihrem Vater auferlegte Strafe mit zu verbüßen. Erst als ihr mehrmals erklärt worden war, daß dies gesetzlich unzulässig sei, ließ sie den Vater, dessen innere Bewegung die hervorbrechenden Thränen verriethen, so weit los, daß er sie aus der Anklagebank hinausführen konnte.

In der Mitte des Saales blieb er noch einen Augenblick stehen und fragte den Vorsitzenden, ob es ihm erlaubt sei, vor Antritt seiner Strafe noch einmal nach Hause zurückzukehren. „Fürchten Sie nicht, daß ich mich der Strafe entziehe,“ sprach er mit zitternder Stimme. „Ich will nur die Meinigen noch einmal sehen, Abschied nehmen von Weib und Kindern und den Segen meiner alten Mutter empfangen. Morgen komme ich wieder und stelle mich zur Haft.“ Als ihm diese Bitte gewährt worden war, dankte er mit ehrerbietiger Verbeugung und verließ mit seiner Tochter den Gerichtssaal.




Dem Mädchen wurde die Gnade des Monarchen im weitesten Umfange zu Theil. Der Vater aber trat am nächsten Tage seine Strafe an, nachdem er schmerzlichen Abschied von den Seinigen genommen hatte. Es war ein Lebewohl auf Nimmerwiedersehen. Das Gefängniß rieb die Kräfte des Mannes mit rapider Eile auf. Nach kaum drei Monaten trug man ihn zu Grabe und er hatte das gemeinsame Ziel erreicht, wo auch dem Aermsten eine freundliche Ruhestatt bereitet ist.

H. Black.




Ein Autodidakt. Die Zeitungen haben unlängst von einem schlichten Bauer in Vorarlberg erzählt, der sich unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen soweit gebildet, um einen Roman schreiben zu können, welcher sich augenblicklich bereits im Druck befindet und demnächst in einem Leipziger Verlage erscheinen wird. Im Anschlusse hieran können wir ergänzend mittheilen, daß der ländliche Autor, befragt, wie es ihm, der nur den Unterricht seiner Dorfschule genossen, möglich geworden sei, sich ein solches Wissen und Können zu erwerben, ausdrücklich erklärt hat, daß es nur die „Gartenlaube“ gewesen, welche durch die treffliche Form ihrer Artikel und namentlich ihre ausgezeichneten Naturschilderungen so fördernd auf seine geistige Ausbildung eingewirkt und sein schriftstellerisches Talent geweckt habe.




Inhalt: Aus dem Merkbuche der Gartenlaube. Für gewisse Abgeordnete. – Getrennt. Novelle von F. L. Reimar. (Schluß.) – In einem Genfer Landhause. Mit Portrait. – Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849. Von Carl Munde. – Unter dem Krummstabe. Von Alfred Meißner. Mit Abbildung. – Aus deutschen Gerichtssälen. 1. Zwei Brode. Von H. Black. – Ein Autodidakt.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 9 enthalten: Die oceanische Weltpost. – Umschau: Amerikanische und preußische Hinterlader. – Das fünfzigjährige Doctorjubiläum Ranke’s. – Fromme Zuchtmeister. – Herstellung der Briefmarken – Neue Ausgaben. – Eine Hochschule für Techniker und Industrielle. – Die Wiener Kunstindustrie. – Vier Tage in Athen. – Literarischer Scandal.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Dasselbe gilt vom Strafrecht mehrerer anderer deutschen Staaten.
  2. §§. 215. 218 Nr. 2. (349 Nr. 3) 222. 223. 34 ff. des Strafgesetzbuchs für die preußischen Staaten.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_160.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)