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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

forttrieb, that es mir doch sehr weh, von der treuen Freundin, die so viel für mich gethan, Abschied zu nehmen. Der Doctor begleitete mich bis Halle. Noch denselben Nachmittag erschien in seinem Hause die Polizei, leider nicht zum letzten Male; denn er wurde später eingezogen und, nachdem er mehrere Monate im Gefängniß gesessen und fast zu Grunde gerichtet war, ebenfalls gezwungen, mit seiner zahlreichen Familie nach Amerika auszuwandern, wo ich Gelegenheit hatte, ihm einen Theil meiner Schuld zurückzuzahlen. Denn ganz bezahlt man eine solche Schuld im Leben nicht!

Wir fuhren nach Weißenfels zum nächsten Bahnhof. Nach Leipzig durfte ich mich nicht wagen, aus Furcht erkannt zu werden. Unterwegs trafen wir beim Anhalten an einem Dorfwirthshaus den ersten preußischen Gensd’armen. Der elegante Wagen, mit den reichen Pferdegeschirren und dem Kutscher in Livrée, imponirten ihm jedoch so, daß er blos höflich grüßte, was ich auf eine leutselige Weise, wie es große Herren zu thun pflegen, erwiderte.

Doctor Rittler nahm Billets für zweite Classe und sagte, indem er dem von Polizei umstandenen Wagen sich näherte und seine Mütze lüftete: „Wenn’s Ihnen gefällig ist, Herr Baron, ich habe die Billets.“ Worauf ich ein vornehmes: „Gut, lieber Doctor,“ hören ließ und mich anschickte, mit seiner und Albert’s Hülfe den Wagen zu verlassen, um mich in das für uns bestimmte Coupé des Dampfzuges zu begeben. Hier eingerichtet, was mit Hülfe einer Art Brücke von Holz und schwarzer Leinwand, auf die ich mein Bein ausstrecken konnte, geschah, brachte ich meinen Dolch in eine solche Lage, daß ich ihn sofort ergreifen konnte, wenn es nöthig würde.

„So willst Du wirklich?“ fragte Rittler mit Bedeutung.

„Ja, bei Gott, ich will, wenn ich muß. Lebendig sollen sie mich nicht haben.“

Mein Entschluß war gefaßt, und Rittler wußte es. Er hatte einen Brief von mir an meine Frau, in dem ich für den schlimmsten Fall von ihr Abschied nahm und ihr einigen Rath in Betreff ihrer und der Kinder Zukunft ertheilte. Leider gelangte dieser Brief, durch ein Mißverständniß, zu früh an sie, ehe sie Nachricht hatte, daß ich in Sicherheit war, und veranlaßte ihr viel Schmerz und Thränen. Sie hat ihn lange aufbewahrt, bis er endlich, wie fast alle uns theuren Erinnerungszeichen aus jener schweren Zeit, durch das Brandunglück verloren ging, welches uns im Herbst 1865 in Florence betraf.

Ich fürchtete Halle sehr, denn ich hatte gehört, daß die Dresdner Polizei einen Commissar dort aufgestellt habe. Zwar war alles Mögliche geschehen, um mich unkenntlich zu machen. Mein Bart war weg; ich trug keine Brille, hielt mich in einen grauen Ueberrock gehüllt, sehr gebeugt, war bleich und abgemagert, und hatte eine grüne Jagdmütze mit doppeltem breitem Visir auf, welches den obern Theil meines Gesichts verbarg (den unteren hatte Niemand ohne Bart gesehen) und auch die Form des Hinterkopfs verdeckte. Außerdem waren meine kurzgeschnittenen Haare in den letzten Wochen auffallend gebleicht, so daß man, statt eines großen, starken Mannes von vierundvierzig, einen gebrochenen Greis von achtundsechzig Jahren vor sich zu haben glauben mußte. Allein dennoch war das Erkennen möglich, vielleicht durch meinen Sohn, vielleicht sogar durch den treuen Freund, der als Spediteur auf der „unterirdischen Eisenbahn“ bereits eine Art Berühmtheit erhalten hatte, oder, wie einer der militärischen Autoren über die Maiereignisse sich in Bezug auf mich selbst ausdrückte, „berüchtigt“ geworden war.

Nicht ohne düstere Ahnungen ließ ich mich daher von einigen Bahnarbeitern auf einem Stuhle in die Bahnhof-Restauration zu Halle tragen. Doctor Rittler hatte einen leeren Saal für mich ausgesucht, in welchem wir allein Platz nahmen. Er wußte nicht, daß es der Speisesaal war, in welchem wir über zwei Stunden warten mußten und der sich um die Mittagszeit mit Kellnern und Gästen füllte, die zum Theil aus Officieren der Garnison und Beamten, vermuthlich auch Polizeibeamten, bestanden. Wir saßen an einem Tische neben der großen Tafel. Ich wagte nicht die mein Gesicht halb verdeckende Mütze abzunehmen, noch aufzublicken und hielt meine Augen halb geschlossen. Die mir zunächst sitzenden Herren bat ich mit verstellter Stimme um Entschuldigung, indem ich vorschützte, das Licht nicht vertragen zu können. Rittler ließ seinen „Baron“ ein paar Mal fallen, ohne daß ich es verhindern konnte. Wie stimmte der Baron mit meinem Paß zusammen, im Fall mir dieser abverlangt wurde, und welcher auf den Kaufmann Christian Müller (immer wieder C. M.) lautete? Das ewig lange Mittagessen und die unendlichen zwei Stunden gingen indessen vorüber, und der Doctor kam wieder mit seinen Trägern, um mich nach meinem Coupé zu schaffen und endlich mit einem warmen Händedruck von mir Abschied zu nehmen, wobei er mir in’s Ohr raunte, daß im nächsten Coupé der Hofrath Dr. Holscher aus Hannover sitze und sich nöthigenfalls meiner annehmen werde. Er selbst kehrte über Leipzig nach Hause zurück.

Ich hörte, daß einer der Träger ihn fragte, wo denn der alte Herr hinwollte, und wie er ihm antwortete: „In’s Seebad.“

„Der sieht auch nicht aus, als ob er wiederkommen würde,“ sagte der Mann, „er ist gelähmt, wie es scheint.“

„Es ist möglich, daß er nicht wiederkommt,“ erwiderte Rittler.

Noch ein Händedruck, ein „Adieu, Herr Baron, schreiben Sie bald,“ ein „Adieu, lieber Doctor, tausend Dank für all’ Ihre Mühe,“ und fort ging der Zug, ohne daß mir in Halle ein Haar gekrümmt worden. In Magdeburg mußte wieder einige Zeit gewartet werden, ehe der Zug nach Hannover abging. Ich hinkte an Krücke und Stock nach der Restauration; meine Schmerzen waren so heftig, daß mir der Schweiß über das Gesicht herabrann, als ich durch die aufgestellten Gensd’armen und Soldaten Spießruthen lief. In der Restauration trat mir ein großer und starker Herr von etwa fünfundvierzig Jahren im grauen Reitrock entgegen und fragte, ob er mir mit etwas dienen könne. Ich hielt ihn für den Wirth und bat um einen Stuhl und ein Glas Wasser. Er führte mich nach einem Lehnstuhl, welcher im Dunkeln stand, bestellte ein Glas Wasser und bot mir eine Prise aus einer goldenen Dose. Als ich sie annahm und meine Freude darüber ausdrückte, bot er mir die ganze Dose.

„Sie können sie mir ja in Hannover wieder geben,“ fügte er hinzu. Ich lehnte sie dankbar ab.

Ich wußte nun, daß es der Hofrath war, und es gewährte mir einige Erleichterung, außer meinem Knaben, noch eine befreundete Seele um mich zu wissen. Ziemlich spät am Abend kamen wir in Hannover an, wo mich der kräftige Hausknecht des Hotel du Rhin auf dem Rücken nach seinem Gasthaus trug und mich in unserem Zimmer eine Treppe hoch absetzte. Ich ließ Abendbrod nach dem Zimmer kommen, ließ Albert die Thür fest verschließen und mit einigen Möbeln verbarricadiren und schlief, meinen Dolch auf dem Tische neben mir, ziemlich gut, nachdem ich vor dem Einschlafen noch ein paar Mal Umschläge um mein Bein gemacht. Am anderen Morgen schaffte mich Hercules Hausknecht wieder nach dem Bahnhof, und nun ging es ungestört bis Minden, wo das Gepäck untersucht und die Pässe vorgezeigt werden mußten. Ein Viergroschenstück, einem der Bahnhofarbeiter in die Hand gedrückt, gewann mir schnell dessen Neigung. Er führte mich, indem ich einen Theil meines Gewichts auf seiner Schulter ruhen ließ, bei den Gensd’armen vorbei, indem er sie bat, „den armen kranken Herrn nicht aufzuhalten,“ bestellte etwas zu essen und zu trinken für uns und versprach wieder zu kommen, wenn es Zeit wäre „an Bord“ zu gehen. Er hielt Wort und wir saßen in unserem Coupé, jeden Augenblick erwartend, daß es fortgehen werde, als einer der Zollwärter herbeikam und die Nummern meiner Koffer ausrief, welche man mir eingehändigt hatte. Die Koffer waren noch nicht untersucht, und ich sollte nun erst mit den Schlüsseln nach dem Bagagezimmer kommen. Ich zeigte auf meine Krücke und mein Bein und hielt ihm mit der einen Hand die Kofferschlüssel, mit der andern ein abermaliges Viergroschenstück hin, und er war klug genug, einzusehen, daß es für beide Theile am besten wäre, das letztere zu nehmen. Die Untersuchung unterblieb, und wir fuhren ab, um die letzte Nacht auf deutschem Boden, in Köln, zu schlafen.

Am nächsten Tage passirten wir Aachen und die belgische Grenze. Als ich an dem belgischen Löwen vorbeikam, war mir es, als ob mir ein Mühlstein von der Brust genommen wäre. Ja, ich fühlte mich so leicht und froh, daß ich selbst meinen Häschern hätte um den Hals fallen können.

In Verviers wurden die Pässe vorgezeigt und die Koffer untersucht. Weder die bebärmützten Gensd’armen, noch die Zollbeamten hatten etwas gegen Herrn Christian und seinen Sohn einzuwenden, und am Abende landeten wir in Brüssel in dem

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