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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Die deutsche Genossenschaftsbewegung.
Von Schulze-Delitzsch.


Während die politische Einigung unseres deutschen Vaterlandes sich in einer Weise zu gestalten beginnt, welche die volle Verwirklichung unserer nationalen Forderungen wiederum in ungewisse Ferne rückt, ist auf anderem Felde ein Stück deutsche Einheit gefördert und zwar auf demjenigen, auf welchem allein für wahrhaft gedeihliche politische Reformen die Grundlage gewonnen werden muß, auf socialem. Die deutschen Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften sind es, von denen schon mehrfach in diesen Blättern die Rede gewesen ist, welche sich von Neuem in den Prüfungen der verflossenen Jahre bewährt haben und an Zahl wie an Umfang und solider Begründung Fortschritte aufweisen, welche die Augen der civilisirten Welt auf sie lenken. Bei den genauen und gewissenhaften statistischen Erhebungen über Zahl und Geschäftsverkehr derselben, wie sie ihre Organisation möglich macht, lassen sich diese Resultate aus den „Jahresberichten“[1] leicht und sicher entnehmen, welche die von ihnen gegründete „Anwaltschaft der deutschen Genossenschaften“ regelmäßig veröffentlicht.

Von kleinen, vereinzelten Anfängen in der Stadt Delitzsch gegen Ende des Jahres 1849 unter Leitung des Verfassers dieser Darstellung in den Rohstoff-Vereinen der Tischler und Schuhmacher, hat sich die deutsche Genossenschaftsbewegung in eigenthümlicher, den Verhältnissen in unserem Vaterlande entsprechender Weise zu ihrem jetzigen Stande emporgeschwungen. Mit den Vorstufen der Vergesellschaftung, gleich der englischen, und nicht sofort mit der höchsten Form der Vereinigung, der Productivgenossenschaft, beginnend, blieb sie von den vielen Unfällen der französischen bewahrt, welche unvermittelt diese letztere Richtung eingeschlagen hatte. Indessen waren diese ersten Schritte selbst, die bei uns geschahen, von denen in England, in Gemäßheit der Verschiedenheit der Zustände, verschieden.

Da in England bei vollster Gewerbefreiheit das Kleinhandwerk mit seinen alten Institutionen fast ganz bei Seite geschoben, der fabrikmäßige Großbetrieb zur Regel geworden war, begannen die Massen der Lohnarbeiter damit, durch ihre Vereinigung bessere Arbeitsbedingungen und Schutz gegen ungerechtfertigten Druck Seitens der Arbeitgeber zu suchen. Dem gesellte sich sodann das Streben nach wirthschaftlicher Erleichterung und Abhülfe in Bezug auf die hohen Preise und schlechte Beschaffenheit der Lebensmittel in den dichtbevölkerten großen Städten und Industriebezirken, da insbesondere die Fälschung hierbei einen gesundheitsgefährlichen Grad erreicht hatte. Die trade-unions und stores waren es daher, die sich in England vorzugsweise einbürgerten, die Vereine in einzelnen Gewerken zur Wahrnehmung der gemeinsamen Arbeiterinteressen und die Consumvereine zur gemeinsamen Beschaffung, später zur gemeinsamen Fabrikation nothwendiger Lebensbedürfnisse. Erst nachdem hier eine Capitalansammlung durch regelmäßiges Einsteuern, ein Einleben in die genossenschaftlichen Formen, Geschäftsübung und Unternehmungsgeist aus kleinen Anfängen heraus sich in den betheiligten Arbeiterkreisen entwickelt hatten, schritt man zu den eigentlichen Productiv-Associationen, zur Gründung größerer industrieller Unternehmungen auf gemeinsame Kosten und Gefahr. Die Bedeutung mehrerer dieser industriellen Unternehmungen – wir sprechen nur den Namen Rochdale aus – ist bekannt, und die meisten derjenigen, welche nachweislich im gedeihlichen Bestande sich befinden, lassen sich auf stores oder trade-unions zurückführen, welche letztere namentlich nach mehrfachen Versuchen der Besserung der Lohnhöhe mittels organisirter Strikes dazu gelangten, ihre Capitalien durch Gründung von eignen Geschäften in fruchtbarerer Weise zu nutzen.

Dagegen war in Deutschland ein anderer Weg angezeigt, weil die für England erwähnten wirthschaftlichen Uebelstände sich bei weitem nicht in demselben Grade zeigten und die Zersetzung der älteren Formen des Gewerbsleben keineswegs so weit vorgeschritten war, sondern allmählich in einer Weise vor sich ging, daß, wenn man die vortheilhaften Vorbedingungen des Gewerbebetriebes im Großen den kleinern Gewerbtreibenden so weit thunlich zuführte, immer noch eine Möglichkeit der Existenz, ja die des Uebergangs in den Großbetrieb für den Einzelnen geboten war. Daher gewannen zunächst die Vereinigungen zur gemeinschaftlichen Beziehung der Rohstoffe und Magazinirung fertiger Waaren zum Verkauf Seitens der Handwerker eines Faches hier Boden, so wie die Vorschuß- und Credit-Vereine zur Beschaffung der nöthigen Geldmittel für kleine Gewerbtreibende und Arbeiter aller Art, denen sich der eigentliche Bankverkehr entzieht und Baarvorschüsse überhaupt nur schwer und zu sehr drückenden Bedingungen zu Theil werden. Und diese beiden, unseren Nachbarländern bis dahin fremden Genossenschaftsformen sind es hauptsächlich, welche dem deutschen Genossenschaftswesen seinen Charakter verleihen und sich so sehr als unentbehrliche Grundlage alles weiteren soliden Fortschritts zu höhern Bildungen bewährt haben, daß sie gegenwärtig auch in jenen Ländern, besonders in Frankreich, Eingang finden, die uns der Zeit nach in der Bewegung voraus waren.

Was die Details der Organisation bei den einzelnen Arten der Genossenschaft anlangt, so ergeben sich Wesen und Zweck der Rohstoff-Magazine und Consum-Vereine von selbst. Dagegen wird über die Einrichtung der Creditgenossenschaften, unserer Vorschußvereine und Volksbanken, als einer deutschen Schöpfung, Näheres beizubringen sein, was zum Verständniß der Resultate nöthig ist, umsomehr als dadurch zugleich gewisse Hauptprincipien der Genossenschaft überhaupt näher in das Licht gestellt werden, welchen auch die übrigen Arten derselben im Wesentlichen den Credit danken, dessen sie beim Publicum genießen.

Es wird nämlich die Selbsthülfe bei Beschaffung der nöthigen Geldmittel in Wirthschaft und Gewerbe in diesen Vorschuß- und Creditvereinen dadurch in das Werk gesetzt, daß:

1. die Vorschußsucher selbst Träger und Leiter des auf Befriedigung ihres Creditbedürfnisses gerichteten Instituts, d. h. Mitglieder des Vorschußvereins, und daher Risico und Gewinn des Geschäfts ihnen gemeinsam sind;

2. daß der durch den Verein vermittelte Geldverkehr überall auf geschäftlichem Fuße (Leistung und Gegenleistung) geordnet ist, so daß den Vereinsgläubigern durch die Vereinscasse, ebenso wie der letzteren durch die Vorschußnehmer bankmäßige Zinsen und Provisionen nach den Verhältnissen des Geldmarktes, endlich den Geschäftsführern angemessene Vergütungen für ihre Arbeit gewährt werden;

3. daß entweder durch sofortige Vollzahlung oder meist allmählich durch fortlaufende kleine Beisteuern der Mitglieder Geschäftsantheile (Guthaben) derselben in der Vereinscasse gebildet werden, nach deren Höhe der Geschäftsgewinn vertheilt und ihnen bis zur Erreichung der festgesetzten Normalsumme zugeschrieben wird, wodurch man, wie durch Actien, ein stets wachsendes eignes Capital für das Vereinsgeschäft erhält;

4. daß außerdem durch Eintrittsgelder der Mitglieder und Gewinnantheile ein Gesammtvermögen des Vereins als Reserve angesammelt wird, welches vorzugsweise zur Deckung von Verlusten dient;

5. daß die außerdem zum vollen Geschäftsbetriebe erforderlichen fremden Gelder anlehensweise auf gemeinschaftlichen Credit und unter solidarischer Haft aller Mitglieder ausgenommen werden;

6. daß endlich die Zahl der Mitglieder unbeschränkt und der Eintritt Allen, welche den allgemeinen Bedingungen des Statutes genügen, offen steht, ebenso der Austritt, letzterer unter Innehaltung gewisser Kündigungsfristen.

Daß bei der weitaus wichtigsten Frage, der Beschaffung eines ausreichenden Betriebsfonds für unsere Volksbanken, die bei Nr. 3–5 vorstehend angegebenen Maßregeln Hand in Hand gehen müssen, versteht sich von selbst. Ohne Bildung eines eignen unkündbaren Fonds in Geschäftsantheilen der Mitglieder (Guthaben), welche zwar Eigenthum der Einzelnen bleiben, aber während ihrer Mitgliedschaft weder ganz noch theilweis aus dem Vereinsgeschäfte zurückgezogen werden dürfen, und einer Reserve, welche

  1. Jahresberichte über die auf Selbsthülfe gegründeten deutschen Erwerbs- und Wirthschaftsgenossenschaften für 1859 bis 1865 von Schulze-Delitzsch, derzeitigem Genossenschaftsanwalt. Leipzig, Verlag von Gustav Mayer.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_184.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)