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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Staatsanwalt laut erklärte: „Die Person bleibt in Haft; sie wird nicht entlassen!“ sprang sie, noch ehe das letzte Wort ausgesprochen war, vom Stuhle auf, dann wendete sie rasch den schönen Kopf nach jeder einzelnen der im Zimmer anwesenden Personen, zuletzt nach der Seite hin, wo der Untersuchungsrichter stand, und sagte, während sie den Blick fest auf diesem ruhen ließ, vollkommen ruhig:

„Ich habe nur sieben Tage Strafe zu verbüßen gehabt. Heute Abend sieben ein halb Uhr geht der siebente Tag zu Ende. Sie dürfen mich nicht länger zurückhalten; Sie haben kein Recht dazu.“

„Darüber haben Sie nicht zu entscheiden,“ versetzte der Untersuchungsrichter.

„Aber bedenken Sie,“ entgegnete die Gefangene dringender, „daß ich nichts verschuldet habe und daß ich und mit mir

Benito Juarez.

noch zwei andere Menschen grenzenlos unglücklich werden, wenn Sie mich zurückhalten.“

Das arme Kind zitterte vor innerer Erregung. Die Angst sprach aus jedem Worte, aus jeder Bewegung, aus jeder unwillkürlichen Zuckung.

„Antworten Sie mir,“ sagte der Untersuchungsrichter milder, als ich erwartet hatte, „sind Sie die Adeline von R., welche durch das Kreisgericht zu B. zu sieben Tage Strafe verurtheilt ist?“

„Nein, ich bin nicht verurtheilt. Aber was schadet das?“ fragte sie naiv.

„O, sehr viel,“ versetzte der Untersuchungsrichter ernst. „Das Strafgesetzbuch bedroht denjenigen mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren und außerdem noch mit Geldbuße von ein Hundert bis zwei Tausend Thalern, wer in der Absicht, sich oder Andern Gewinn zu verschaffen, bewirkt, daß Thatsachen, welche für Rechte oder Rechtsverhältnisse von Erheblichkeit sind, in öffentlichen Urkunden, Büchern oder Registern als geschehen beurkundet werden, während sie gar nicht oder in anderer Weise geschehen sind. Diese Strafe haben Sie verwirkt, denn Sie haben das hier vorgezeichnete Verbrechen verübt, und die öffentliche Sicherheit gebietet es, Sie bis zur Entscheidung in Gewahrsam zu behalten.“

„Mein Gott! mein Gott!“ schrie die Gefangene entsetzt, „ich verstehe, ich fasse das nicht; ich habe ja nichts Böses gewollt.“

„Das macht Sie nicht frei, selbst wenn es wahr wäre. Sie haben einer Andern Gewinn verschaffen wollen.“

„Nein! nein!“ fiel sie hastig ein und legte betheuernd die Hand auf die Brust.

„Sie haben gewollt,“ fuhr der Untersuchungsrichter ruhig fort, „daß eine Schuldige der gerechten Strafe entzogen wird.“

„Daran habe ich nicht gedacht, ich habe nur eine Unglückliche vor Verzweiflung retten wollen. Und wissen Sie, weshalb ich das gethan habe? Ich war stärker und muthiger als sie. Glauben Sie meiner Versicherung: das zarte, sanfte Mädchen wäre schon auf dem Wege zu diesem Hause zusammengebrochen, sie wäre lebend gar nicht hierher gekommen. Und wenn auch das, es würde ihr Tod gewesen sein, Sie hätten eine Leiche hinaustragen müssen.“

„Auch das berechtigte Sie nicht zu der Täuschung und befreit Sie nicht von der Strafe,“ bemerkte der Staatsanwalt.

„Was soll ich denn noch sagen,“ murmelte die Gefangene dumpf, „um diese harten Herzen zu erweichen! Fragen Sie den Menschen da,“ fügte sie laut hinzu, indem sie die eine Hand nach dem Polizeibeamten ausstreckte, „der wird Ihnen bestätigen, was ich von meiner Freundin gesagt habe. Er kennt sie ja. Es ist mir wahrhaftig nicht leicht geworden, hierher zu gehen; ich habe, ehe ich das that, unbeschreiblich gelitten. Noch vor dem Hause habe ich umkehren wollen, weil meine Kraft aufgezehrt, mein Muth gebrochen war. Aber als ich mich zurückwandte, als ich den Fuß schon zum Fortgehen aufgehoben hatte, da stand im Geiste meine Freundin vor mir, wie ich sie verlassen hatte, die Hände ringend, weinend, jammernd, trostlos und aufgelöst in Schmerz. Das machte mich wieder stark; ich schritt vorwärts, über die Schwelle dieses Hauses hinweg, in das Gefängniß hinein. Und wenn ich hier schwach werden wollte, so rief ich mir dies Bild vor die Seele und – ich harrte aus.“

„Sagen Sie das Alles Ihren künftigen Richtern. Bei Abmessung der Strafe wird darauf Rücksicht genommen werden. Man wird Sie mit zwei Jahren und einhundert Thalern durchlassen. Mich geht das nichts an,“ bemerkte der Staatsanwalt.

„Ja, ja,“ entgegnete die Gefangene, welche nur den ersten Theil dieser Bemerkung aufgefaßt zu haben schien, „ich will das thun, ich will Alles thun, was Sie wollen. Aber, nicht wahr, Sie halten mich nicht zurück, Sie lassen mich heute Abend gehen?“ fügte sie bittend hinzu.

„Nein!“ versetzte der Staatsanwalt kurz.

„Muß ich Ihnen noch einmal wiederholen, daß ich zu Grunde gehe? Meine Freundin erwartet mich. Sie zählt die Stunden bis zu meiner Rückkehr; sie vergeht in Sorge und Angst.“

„Ihre Freundin hat als Theilnehmerin an Ihrer Strafthat dieselbe Strafe zu gewärtigen.“

Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen. „Was sagen Sie da, mein Herr; Theilnehmerin soll meine Freundin sein?“ rief sie. „Sie weiß ja gar nicht, daß ich hier bin; sie würde nimmermehr zugegeben haben, daß ich hierher gehe. Ich sagte ihr, daß ich Schritte thun wollte, um sie frei zu machen von der Strafe. Sie glaubt, daß ich an einen andern Ort gegangen bin, daß ich Gnade für sie zu erlangen suche.“

„Die Untersuchung mag dies herausstellen,“ bemerkte der Untersuchungsrichter.

„Die Untersuchung –“ wiederholte die Gefangene tonlos; nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „mir ist so sonderbar – so voll und doch so leer – ich höre, fasse aber nicht – ich soll hier bleiben – das kann ja nicht sein – ich habe nur falsch verstanden – nicht wahr, Herr Inspector, Sie entlassen mich heute Abend?“

„Ich darf nicht,“ versetzte ich weich, aber fest.

„Nicht?!“ schrie die Gefangene kreischend. Dies eine Wort schnürte mir die Brust zu. Es war ein Schmerzensschrei, wie ich in meinem Leben noch nicht gehört hatte.

Einige Augenblicke war Alles still, nur das tiefe und schnelle Athemholen der Gefangenen war hörbar.

Der Untersuchungsrichter mochte annehmen, daß diese sich in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_284.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)