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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 20.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Aus dem Merkbuche der Gartenlaube.

Deutschland hat, scheint es mir, für sich allein mehr Orden hervorgebracht, als das ganze übrige Europa, und die meisten kamen auf in den letzten Jahrhunderten, in der Zeit unserer politischen Erniedrigung; wie vermochten sie das Herz zu erheben? Jeder Fürst wollte auch seinen Orden, wenigstens seinen kleinen Orden, haben, und so sahen wir die bunteste Fülle von Orden und Bändern, die Ihr Auge wohl öfter an einem puppengleich geschmückten Minister oder Kammerherrn angeschaut haben wird. Das kann ein wahres Verdienst nicht ehren, noch die Kraft langer Fortdauer und Ueberlieferung auf die Nachwelt in sich tragen. Meine Herren! Ich bin aufrichtig dem Königthum zugethan; es giebt hochherzige Könige, und der König, dem ich diene, ist des edelsten Menschengefühls voll, er hat jederzeit Deutschlands Wohl gewollt und wird nie etwas Anderes wollen; ich darf fest darauf vertrauen. Aber zugleich hege ich die Ueberzeugung, daß unsere Fürsten bald die Selbstverleugnung haben werden, allem byzantinischen oder chinesischen Schmuck zu entsagen, zur Einfachheit unseres Alterthums zurückzukehren und keinen Orden an Civilisten auszutheilen, da sie ursprünglich blos für das Heer bestimmt gewesen scheinen. Für dieses, für die Krieger mögen sie bleiben, ihnen kann ich sie nicht absprechen wollen. Es ist etwas Großes, in heißer Schlacht ein solches Zeichen erhalten zu haben, und nach ihm pflegt der Krieger zu sehen; aber was soll unter Civilisten ein Ritter, der nie zu Rosse steigt, ein Comthur, der nichts zu commandieren hat?

Jacob Grimm.




Vater und Sohn.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.

In der Nähe der polnischen Grenze, wo ich mich als praktischer Arzt längere Zeit aufhielt, bieten „Land und Leute“ vielfache Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen und Studien. Die Folgen der früheren Erbunterthätigkeit und Hörigkeit sind noch keineswegs verschwunden; die ehemalige Knechtschaft hat Herren und Unterthanen in gleicher Weise demoralisirt und dadurch die abnormsten Zustände und Verhältnisse herbeigeführt. Trotz der im Jahre 1809 erfolgten Aufhebung der Erbunterthänigkeit hat sich im Laufe der Zeit wenig verändert und noch heute zeichnet sich das Volk an der Grenze durch seine sclavische Gesinnung, durch Trägheit, Leichtsinn und Trunksucht aus, während der Adel der Provinz durch seine tyrannische Willkür, Verschwendungssucht und seinen Uebermuth an das Leben und Treiben jener alten Magnaten und ihre so verrufene „polnische Wirthschaft“ erinnert. Hier findet man noch hochgestellte Familien, die sich durch den unsinnigsten Luxus, durch Spiel und Ausschweifungen aller Art in kürzester Frist ruiniren, Männer und Frauen, welche jedes menschliche und göttliche Gesetz frech mit Füßen treten und in ihrer wilden Leidenschaftlichkeit vor keinem Verbrechen, keiner Unthat zurückschrecken, obgleich die frühere Straflosigkeit längst aufgehört hat und die bessere Rechtspflege den Schuldigen nicht mehr wie sonst schont, wo der Edelmann sich ungescheut Alles erlauben durfte und das vornehme Verbrechen weder Kläger noch Richter fand. Ich selbst fand in meiner Eigenschaft als Hausarzt öfters Gelegenheit, manches erschütternde Familiendrama, manches grauenvolle Geheimniß, manche zerrüttete Verhältnisse durch eigene Anschauung kennen zu lernen.

Unter andern Patienten schenkte mir Graf Xaver G…in, einer der angesehensten und vornehmsten Magnaten der Provinz, sein ganzes Zutrauen, obgleich mir seine Persönlichkeit nichts weniger als sympathisch erschien. Derselbe war der Typus des dortigen Adels, eine höchst interessante und blendende Erscheinung, der unermüdlichste Sportsmann, Jäger und Reiter, der verwegenste Spieler, vor Allem aber berühmt oder vielmehr berüchtigt durch seine galanten Abenteuer. Mit jener männlichen Schönheit, welche man nicht selten in den höheren Ständen der slavischen Race findet, verband der Graf eine hinreißende Liebenswürdigkeit, eine wunderbare elastische Geschwindigkeit, eine gewisse romantische Ritterlichkeit, die wohl geeignet war, ihm bei einer oberflächlichen Bekanntschaft alle Herzen zu gewinnen. Aber ein tieferer Blick, wie er mir als Hausarzt gestattet war, ließ gar bald unter der glänzenden Hülle eine grenzenlose Frivolität, den gänzlichen Mangel aller moralischen Grundsätze, seine Unzuverlässigkeit und Charakterlosigkeit erkennen, welche unter diesen Umständen doppelt gefährlich und besonders dem schwachen Geschlechte verderblich werden mußte, das sich nur zu leicht von seiner verführerischen Außenseite täuschen ließ. Wehe dem Mädchen oder der Frau, auf deren Eroberung er es abgesehen hatte, sie wurde fast immer ohne Widerstand die Beute und das Opfer des rücksichtslosen Wüstlings.

Nachdem der Graf durch seine ungezügelte Verschwendungssucht sich so gut wie ruinirt hatte, gelang es ihm trotz seines zweideutigen Rufes die Hand einer jungen und reichen Erbin zu gewinnen. Sie war eine sanfte, herzensgute und fein gebildete Dame, blond und zart, von jener ätherischen Schönheit, die für den aufmerksamen Arzt leider das fast untrügliche Zeichen der beginnenden Schwindsucht ist. Sie liebte den Grafen mit der zärtlichsten Hingebung und Treue, welche er zum Erstaunen der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_305.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)