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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 22.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


4.

Unterdeß stellte Friederike einen kleinen Zinnteller mit einem Kinder-Eßbesteck und einer frischen Serviette auf den Tisch. Zugleich klingelte es draußen, und gleich darauf öffnete Heinrich die Zimmerthür und ließ einen kleinen, ungefähr siebenjährigen Knaben eintreten.

„Guten Abend, Papa!“ rief der Kleine und schleuderte die Schneeflocken von seiner Pelzmütze.

Hellwig nahm den blonden Kopf seines Kindes zärtlich zwischen seine Hände und küßte es auf die Stirn.

„Guten Abend, mein Junge,“ sagte er; „nun, war es hübsch bei Deinem kleinen Freund?“

„Ja; aber der dumme Heinrich hat mich viel zu früh geholt.“

„Das hat die Mama so gewünscht, mein Kind… Komm her, Nathanael, sieh Dir einmal dies kleine Mädchen an – es heißt Fee“

„Dummheit! .. wie kann sie denn ‚Fee‘ heißen – das ist ja gar kein Name!“

Hellwig’s Auge streifte gerührt über das kleine Geschöpfchen, das Elternzärtlichkeit selbst mittels des Rufnamens poetisch zu verklären gesucht hatte.

„Ihr Mütterchen hat sie so genannt, Nathanael,“ sagte er weich; „sie heißt eigentlich Felicitas… Ist sie nicht ein armes, armes Ding? Ihre Mama ist heute begraben worden; sie wird nun bei uns wohnen und Du wirst sie lieb haben, wie ein Schwesterchen, gelt?“

„Nein, Papa, ich will kein Schwesterchen haben.“

Der Knabe war das treue Abbild seiner Mutter. Er hatte schöne Züge und einen merkwürdig klaren, rosigen Teint; aber er hatte auch die häßliche Gewohnheit, das Kinn auf die Brust zu drücken und mit seinen großen Augen unter der gewölbten Stirn hervor nach oben zu schielen, was ihm einen Ausdruck von Heimtücke und Verschlagenheit gab. In diesem Augenblick bog er den Kopf noch tiefer als sonst gegen die Brust, hob den rechten Ellenbogen wie zu trotziger Abwehr in die Höhe und sah unter demselben mit einem bösartigen Ausdruck nach dem fremden Kind hinüber.

Die Kleine stand dort und zog und zerrte verlegen an ihrem Röckchen; der bedeutend größere Junge imponirte ihr offenbar, aber allmählich kam sie näher, und ohne sich durch seine gehässige Stellung abschrecken zu lassen, griff sie mit leuchtenden Augen nach dem Kindersäbel, der an seinem Gürtel hing. Er stieß sie zornig zurück und lief seiner Mutter entgegen, die eben wiedereintrat.

„Ich will aber kein Schwesterchen haben!“ wiederholte er weinerlich. „Mama, schicke das ungezogene Mädchen fort; ich will allein sein bei Dir und dem Papa!“

Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und trat hinter ihren Stuhl am Eßtisch.

„Bete, Nathanael!“ gebot sie eintönig und faltete die Hände. Sofort fuhren die zehn Finger des Knaben in einander; er senkte demüthig den Kopf und sprach ein langes Tischgebet… Unter den obwaltenden Umständen war dies Gebet die abscheulichste Profanation einer schönen, christlichen Sitte.

Der Hausherr rührte das Essen nicht an. Auf seiner sonst so blassen Stirn lag die Röthe innerer Aufregung, und während er mechanisch mit der Gabel spielte, flog sein getrübter Blick unruhig über die mürrischen Gesichter der Seinen. Das kleine Mädchen ließ es sich dagegen vortrefflich schmecken. Sie steckte einige Bonbons, die er neben ihren Teller gelegt hatte, gewissenhaft in ihr Täschchen.

„Das ist für Mama,“ sagte sie zutraulich; „die ißt Bonbons zu gern; Papa bringt ihr immer ganze, große Düten voll mit.“

„Du hast gar keine Mama!“ rief Nathanael feindselig herüber.

„O, das weißt Du ja gar nicht!“‘ entgegnete die Kleine sehr aufgeregt. „Ich habe eine viel schönere Mama, als Du!“

Hellwig sah tieferschrocken und scheu nach seiner Frau, und seine Hand hob sich unwillkürlich, als wolle sie sich auf den kleinen, rosigen Mund legen, der das eigene Interesse so schlecht zu wahren verstand.

„Hast Du für ein Bettchen gesorgt, Brigittchen?“ fragte er hastig, aber mit sanfter, bittender Stimme.

„Ja.“

„Und wo wird sie schlafen?“

„Bei Friederike.“

„Wäre nicht so viel Platz – wenigstens für die erste Zeit – in unserem Schlafzimmer?“

„Wenn Du Nathanael’s Bett hinausschaffen willst, ja.“

Er wandte sich empört ab und rief das Dienstmädchen herein.

„Friederike,“ sagte er, „Du wirst des Nachts dies Kind unter Deiner Obhut haben – sei gut und freundlich mit ihm; es ist eine arme Waise und an die Zärtlichkeit einer guten, sanften Mutter gewöhnt.“

„Ich werde dem Mädchen nichts in den Weg legen, Herr Hellwig,“ entgegnete die Alte, die offenbar gehorcht hatte; „aber ich bin ehrlicher Leute Kind und hab’ in meinem ganzen Leben nichts

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 337. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_337.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)