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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

lieben sollen, sie klangen genau so eintönig und unbewegt wie vorher auch. Man nahm die Mahlzeiten gemeinschaftlich ein, und Sonntags schritt das Ehepaar einträchtig nebeneinander zur Kirche, aber Frau Hellwig vermied es mit eiserner Consequenz, ihren Mann anzureden. Sie fertigte seine Annäherungsversuche mit der knappesten Kürze ab und machte es möglich, stets neben oder über der kleinen Gestalt des Hausherrn hinwegzusehen. Ebenso wenig existirte der kleine Eindringling für sie. Sie hatte an jenem stürmischen Abend der Köchin ein für allemal befohlen, täglich eine Portion Essen mehr anzurichten und in die Kammer derselben einige Bettstücken nebst Leinzeug geworfen. Den kleinen Koffer mit Felicitas’ Habseligkeiten, den unterdeß der Hausknecht aus dem Löwen gebracht, mußte Friederike vor den Augen der Hausfrau öffnen und die äußerst sauber gehaltene kleine Garderobe, welcher der Hauch eines sehr feinen Odeurs entquoll, sofort auf einen offenen Gang zum Auslüften hängen… Hiermit begann und beschloß sie die ihr aufgedrungene Fürsorge für das „Spielerskind“, und als sie darnach wieder in das Zimmer trat, war sie mit diesem Capitel innerlich fertig für alle Zeiten. Nur ein einziges Mal schien es, als ob ein Funke von Theilnahme in ihr aufglimme. Eines Tages nämlich saß eine Nähterin im Wohnzimmer und fertigte aus einem dunklen Stoff zwei Kleider für Felicitas, genau nach dem strengen Schnitt, wie die Frau des Hauses sich trug. Zu gleicher Zeit preßte Frau Hellwig die widerstrebende Kleine zwischen ihre Kniee und bearbeitete deren Kopf so lange mit Bürste, Kamm und Pomade, bis das wundervolle Lockengeringel die erwünschte Glätte und Nachgiebigkeit erhielt und sich in zwei häßliche, steife Zöpfe am Hinterkopf zwängen ließ… Die Abneigung dieses Weibes gegen Grazie und Anmuth, gegen Alles, was wider die Gebote ihrer verknöcherten Ansichten stritt und was seine Linien und Formen aus dem Gebiet des Idealen entnahm – jener Widerwille war stärker noch als ihr Starrsinn, als der Vorsatz, die Anwesenheit des Kindes im Hause völlig zu ignoriren. … Hellwig hätte weinen mögen, als ihm sein kleiner Liebling so entstellt entgegentrat, während seine Frau nach der Sühne, die ihr schönheitsfeindlicher Sinn gebieterisch verlangt hatte, womöglich noch zurückweisender gegen das Kind war, als vorher.

Noch war indeß die Kleine nicht zu beklagen; noch konnte sie aus dem Bereich jener Medusenaugen flüchten an ein warmes Herz – Hellwig liebte sie wie seine eigenen Kinder. Freilich fand er nicht den Muth, dies offen auszusprechen – seinen Fond von Energie hatte er an jenem ereignißvollen Abend seiner Frau gegenüber völlig erschöpft – aber sein Auge wachte unablässig über Felicitas. Gleich Nathanael hatte sie ihr Spielwinkelchen in ihres Pflegevaters Zimmer; dort durfte sie ungestört ihre Puppen herzen und sie einwiegen mit den Melodieen, die sie noch gelernt hatte auf den Knieen der Mutter. Nathanael ging nicht in die öffentliche Schule; er erhielt seinen Unterricht von Privatlehrern unter den Augen des Vaters, und als Felicitas ihr sechstes Jahr erreicht hatte, begann dieser Unterricht auch für sie. Sobald. aber der Schnee schmolz und Crocus und Schneeglöckchen die noch leeren, schwarzen Rabatten besäumten, wanderte Hellwig täglich mit den Kindern hinaus in seinen großen Garten; da draußen wurde gelernt und gespielt, während man nur zur Essenszeit das Haus am Marktplatz aufsuchte. Frau Hellwig betrat sehr selten den Garten; sie zog es vor, mit dem Strickstrumpf in ihrer großen, stillen Stube, hinter dem makellos weißen, in regelrechte Fältchen gebrochenen Fenstervorhang zu sitzen, und zu diesem Vorzug hatte sie einen ganz besonderen Grund. Ein Vorfahr Hellwig’s hatte den Garten in altfranzösischem Stil angelegt. Es war sicher eine Meisterhand gewesen, von welcher die rings vertheilten, lebensgroßen mythologischen Figuren und Gruppen aus Sandstein herrührten. Freilich hoben sich die hellen Gestalten scharf ab von den düsteren, steifen Taxuswänden. Die reizenden, aber ziemlich unverhüllten Formen einer Flora, die entblößten, zarten Schultern und Arme der sich sträubenden Proserpina und die muskulöse Nacktheit ihres gewaltigen Entführers mußten den Blick des Eintretenden sogleich auf sich ziehen – und das waren in der That Steine des Anstoßes für Frau Hellwig. Sie hatte anfänglich die Hinwegschaffung dieser „sündhaften Darstellung des menschlichen Leibes“ gebieterisch verlangt, allein Hellwig rettete seine Lieblinge durch Vorzeigung des väterlichen Testamentes, in welchem ausdrücklich die Entfernung der Statuen untersagt wurde. Hierauf hatte Frau Hellwig nichts Eiligeres zu thun, als zu Füßen der mythologischen Zankäpfel eine Wildniß von Schlingpflanzen anlegen zu lassen, und nicht lange dauerte es, so erschien Herrn Pluto’s grimmiges Gesicht unter einer ehrwürdigen, grünen Allongeperrücke. Eines schönen Morgens aber riß Heinrich auf Befehl seines Herrn mit einem wahren Wonnegefühl die grünen Schmarotzer bis auf das kleinste Wurzelfäserchen aus der Erde, und seit der Zeit vermied es Frau Hellwig im Interesse ihres Seelenheiles, noch mehr aber darum, weil die Statuen hohnlächelnde Zeugen ihrer Niederlagen waren, den Garten zu betreten. Gerade deshalb wurde er aber auch die eigentliche Heimath der kleinen Felicitas.

Hinter den vornehmen Taxuswänden dehnte sich ein großer, prächtiger Rasenfleck. Riesige Nußbäume senkten die Stämme tief ein in das blumengesprenkelte Gras, und ein rauschender Mühlbach durchschnitt zum Theil die grüne Fläche; seine Borden umsäumte dichtes Haselgesträuch, und der kleine, beraste Damm, den man zum Schutz gegen das im Frühling reißende Gewässer aufgeworfen hatte, schimmerte im Mai gelb von Schlüsselblumen, und später lugten die rosenrothen Aeuglein der Feldnelken zwischen den wehenden Halmen.

Felicitas lernte unermüdlich und saß mit merkwürdig beherrschter Haltung in den Lehrstunden. Wenn aber Hellwig am späten Nachmittag den Unterricht für beendet erklärte, dann erschien sie plötzlich völlig umgewandelt. Noch hochroth vom Lerneifer war sie doch wie toll, wie berauscht von der Freiheit; sie konnte immer und immer wieder mit hochgehobenen Armen, wie ohne Zweck und Ziel über den Rasenplatz jagen, ungebändigt, in wilder Grazie, wie das junge Roß der Steppe. Dann glitt sie blitzschnell am Stamm eines Nußbaumes empor, tauchte den Kopf, umwogt von aufgelösten Haarmassen, jauchzend aus der höchsten Spitze des Wipfels und lag dann plötzlich wieder drunten am Mühlbach; die gefalteten Hände unter den Kopf gelegt und in das grüne Düster der droben leise auf und abwehenden, gefiederten Nußblätter schauend, träumte sie, träumte jene hellen, trügerischen Gebilde von Welt und Zukunft, die sich wohl hinter jeder lebhaft denkenden Kinderstirn aus gehörten goldenen Märchen und der eigenen Einbildungskraft zusammenweben… Drunten rauschte das Wasser eintönig vorüber; die Sonnenstrahlen taumelten auf den Wellen und drangen gedämpft durch die dunklen Haselbüsche, wie halbverschleierte, geheimnißvolle Gluthaugen; Bienen und Hummeln summten vorüber, und die Schmetterlinge, die im Vordergarten gelangweilt die sorgfältig gepflegten, exotischen Gewächse umflattert hatten, fanden hier das gelobte Land und hingen sich furchtlos an die Blumenkelche, dicht neben der Wange des kleinen Mädchens …

Es zogen wohl auch phantastisch geformte, weiße, leuchtende Wölkchen droben über den Baumwipfel – dann stand plötzlich eine räthselhafte Vergangenheit vor den Augen des tief sinnenden Kindes. Weiß und leuchtend war ja auch das Gewand der Mutter gewesen; das Kerzenlicht hatte sich förmlich in dem milchweißen Glanz des Stoffes gespiegelt, der lang und mit Blumen bestreut über das vermeintliche schmale Bett herabgeflossen war. Felicitas. wunderte sich noch immer, daß die Mutter Blumen in den Händen gehabt und ihr keine einzige geschenkt hatte; sie grübelte und sann, weshalb man ihr damals nicht erlauben wollte, die Mama wach zu küssen, was doch sonst jeden Morgen unter gegenseitiger Schelmerei, zum großen Jubel des Kindes hatte geschehen dürfen – sie wußte nicht, daß das bezaubernde Mutterantlitz, welches sich stets in leidenschaftlicher Zärtlichkeit über sie herabgeneigt, längst unter der Erde moderte. Hellwig hatte nie gewagt, ihr die Wahrheit zu sagen; denn wenn sie auch nach einem Zeitraum von fünf Jahren nicht mehr so bitterlich weinend und mit stürmischer Heftigkeit nach den Eltern verlangte, so sprach sie doch stets mit rührender Zärtlichkeit von ihnen und hielt ihres Pflegevaters doppelsinniges Versprechen, daß sie die Ihrigen dereinst wiedersehen werde, mit unzerstörbarer Ueberzeugung fest. Ebenso wenig kannte sie den Beruf ihres Vaters; er selbst hatte es so gewünscht, und deshalb sah Hellwig streng darauf, daß Niemand im Hause mit der Kleinen von der Vergangenheit spreche. Es fiel ihm nicht ein, daß der wohlthätige Schleier, den er vor ihren Augen festhielt, vor der Zeit seiner Hand entfallen könne – er dachte nicht an seinen eigenen Tod; und doch schritt dies furchtbare Gespenst längst unhörbar, aber sicher neben ihm. Er war unheilbar brustleidend, allein wie alle derartige Kranken hatte er die unerschütterlichsten Lebenshoffnungen. Er mußte bereits auf dem Rollstuhl

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_339.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)