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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und treiben ihre tollen, lustigen Schnacken und Schwänke im neuen wie im alten Wien, in trüben wie in heitern Tagen, und die Zeit ist uns wahrlich nicht lang geworden, die wir in den belebten Gassen, auf allen Promenaden, im Stadtpark und Prater verbummelten, bis uns die Dampfpfeife und die Sehnsucht nach dem geliebten Rebellen zum Nordbahnhofe rief.

Schön und imposant ist dieser Bau, der an Kraft und Pracht alle Neubauten überragt und den der gewaltige Geist der Industrie mit gutem Recht eines seiner Meisterwerke nennen kann. Wir haben uns mit demselben in der kurzen Zeit unserer Anwesenheit in Wien so vertraut gemacht, um hier eine ziemlich umfassende Schilderung folgen lassen zu können. Während die jüngere Schwester Westbahn wie eine putzsüchtige Kokette ihr ganzes Capital auf prunkenden Flitter verschwendete, um nach kurzer Herrlichkeit in glänzenden Räumen Noth und Elend zu leiden, beschränkte sich ihre ältere Schwester Nordbahn auf das Nothwendigste, baute sich vor dreißig Jahren ein bescheidenes schlichtes Haus, hielt wie eine gute Hausfrau das Ihrige sorgsam zu Rathe, und erst als ihr der Ueberfluß erlaubte, der Kunst und dem herrschenden Luxus ohne Gefahr ein Opfer zu bringen, warf sie das alte Kleid von sich, schmückte sich mit dem Pomp einer Königin, und ihre verarmten und irregeführten Geschwister beugten sich beschämt im Staube vor ihr. Sie war das Aschenbrödel, und ihre weise Verwaltung der Schuh, dem sie den Purpur dankt.

Der Nordbahnhof, obwohl im Jahre 1836 gegründet, ist in seiner gegenwärtigen Gestalt vollkommen neu. Volle sieben Jahre dauerte der Umbau, bis endlich im vorigen Jahre die letzte Breterhülle fiel und der wunderbare Neubau, nach dem Entwurf des Bahnarchitekten Ingenieur Hofmann, eines reich begabten jungen Würtembergers errichtet, wie ein Phönix aus der Asche, in voller Kraft und Schönheit auferstand.

Wo ehedem ein schmuckloses Asyl für obdachlose Reisende bestand, erhebt sich jetzt, von vier dreistockhohen Pavillons flankirt, eine langgestreckte Personenhalle, die zierlichste und eleganteste, welche Wien besitzt, und wenn auch nicht die imposanteste, doch sicher die freundlichste und einladendste des Continents. Wenn wir uns dem historischen Prater mit seinen Ringelspielen, Schaubühnen, Wurstelbuden und Bierhallen nähern, winken uns, zwischen ihm und der Donau, die vier Pavillons, die an den vier Ecken der Halle ihre Hüter repräsentiren, gar anmuthsvoll entgegen. Frei im Rundbogenstil ausgeführt, mit einer zinnengekrönten Terrasse, steigen sie mit ihren schlanken und schmucken Thürmchen stolz aus der Erde empor. Von der Stadtseite aus liegt die Halle zur Linken des Praters. Die Verbindungsbahn der Nord- und Südbahn zieht sich in einer Reihe von Eisenbrücken über den sogenannten Praterstern, um in einen scharfen Bogen von der Stirnseite der Personenhalle einzumünden, denn der ganze Nordbahnhof bewohnt, so zu sagen, eine erste Etage, und die Passagiere haben über eine Treppe in die Warteräume hinabzusteigen. Leichte Glasdächer decken hier die großen Räume, welche der Gepäckausgabe, Revision und Verzollung zugewiesen sind. Zu beiden Seiten der Halle sind die früher erwähnten Pavillons durch eine anscheinend niedrige Gebäudeflucht verbunden.

Die Mitte dieses Längentractes steigt jedoch zu einem imposanten Aufbau empor, und sowohl der gewaltige Vorsprung als die große Säulenfronte verräth, daß dieser Mittelbau das Prachtstück des Bahnhofs birgt. Es ist die große Vorhalle für das abreisende Publicum, derselbe Raum, den unsere Abbildung darstellt. Wir treten durch eine der fünf Thüren in den üppigsten Säulenwald. Durch zwölf bis zur Decke ragende Granitmonolithe sehen wir, den Eingängen gegenüber, fünf Fenster, hinter welchen die Cassirer die Fahrkarten ausgeben. Belästigendes Gedränge ist hier unmöglich, denn jedem einzelnen Reisenden ist durch Eisenstäbe sein Raum zugemessen und der Zugang vorgezeichnet. Indem wir in die Mitte dieses Vestibules schreiten, erschließt sich uns ein neuer überraschender Anblick. Vier imposante Prachttreppen aus Granit führen paarweise zu jeder Seite hinauf, und die stattlichen rothglänzenden Pfeilerreihen aus Salzburger Marmor, welche sich hier erheben, lassen uns über diese großartige Schöpfung fast den harmonischen Bau der ganzen Halle vergessen.

Man erkennt an der ganzen Ausschmückung, an der vorsichtigen, liebevollen Sorgfalt, mit welcher jede Rosette, jeder Knauf, jedes Capitäl bedacht ist, daß dieses Werk ein praktischer kunstsinniger Bauherr geschaffen hat, der nicht den flüchtigen Effect des Augenblicks, sondern den Ruhm der Meisterschaft für Jahrhunderte zu erstreben suchte.

Drei der vier Treppen, die in die Wartesäle führen, sind dem Publicum zugewiesen, – die vierte, durch ein Gitter abgeschlossen, führt in die Gemächer, die nur den Mitgliedern des kaiserlichen Hauses geöffnet sind und weniger blendende Pracht als behaglichen Comfort zeigen.

Aus den Wartesälen tritt man in die Abfahrtshalle, dieses lichte, luftige Gebilde aus Eisen und Glas, das auf einer vierfachen Reihe von Eisensäulen ruht. Der Estrich dieser Halle ist zwar der gewöhnliche Eisenbahnboden, Schotter zwischen den Schienen und Asphalt auf den Perrons. Aber der prosaische Boden wird poetisch, wenn die Sonne aus den Wolken bricht und ihre Strahlen auf die farbigen Gläser in den Eisenfüllungen zwischen den einzelnen Säulen senkt. Dann breitet sich ein Teppich in bunter glänzender Farbenpracht über Schotter und Asphaltschichte, und der Riesensaal hat einen Mosaikboden, wie ihn die mächtigste Fee arabischer Märchen nicht herrlicher und reizender hinzaubern kann.

Prachtvoller noch als dieser Feeensaal ist der Ankunfts-Salon, ihm gegenüber. Von glänzend polirten Säulen getragen, mit Mosaikboden, kunstvollen Gemälden an den Wänden, Büsten, Statuen und Statuetten in den Nischen, kostbaren Kronleuchtern und blühenden Gesträuchen und Blumen rings umher, scheint dieser Salon einer der hängenden Gärten der Semiramis zu sein, durch dessen Pforten man die Aussicht in ein Paradies genießt.

Auch bei allen Nebenbauten hat man das Schöne mit dem Nützlichen im Auge gehabt, und überall offenbart sich die tüchtige und umsichtige Leitung dieses industriellen Instituts. Welche Resultate eine solche Leitung erzielt, beweisen Zahlen: Brutto-Einnahme im Jahre 1838: drei Millionen; im Jahre 1866, trotz Kriegs und schlechter Zeiten, siebenzehn und eine halbe Million. –

Schon war der fünfzehnte Tag des Hoffens und Harrens auf unsern lieben Rebellen gekommen. In der Halle ging es besonders lustig und lebendig zu – aber kein Gedränge, keine Verwirrung war zu spüren, denn der Geist der Ordnung überwacht das bunte und bewegte Bild. Hier herzt ein weinendes Mütterchen ihren scheidenden Sohn – dort eine schmucke Dirne einen lustigen Rekruten. Hier spitzt ein Ungar in zottiger Bunda seinen Schnurrbart und murmelt verächtlich sein Terremtete über die schwäbische Herrlichkeit – dort zieht ein Sohn des Slovakenlandes schüchtern und bescheiden vor jedem uniformirten Wächter seinen Hut. Hier zankt ein Jude mit einem Eckensteher, um ihm ein paar Kreuzerchen vom Trägerlohn abzuzwicken – dort jodelt ein fideler Bruder ein paar Gassenhauer herunter. Hier feilscht eine stämmige Bäuerin mit dem Cassirer und droht, auf der Südbahn statt auf der Nordbahn nach Hause zu fahren – dort fragt eine andere den Conducteur, ob sie ihren kleinen dicken Jungen nicht statt der fünfzig Pfund Gepäck taxfrei mit sich führen könne. Hier sprudelt ein Witzbold seine Wiener Bonmots – dort lispelt eine verschämte Dorothea ihrem scheidenden Hermann ein zärtliches Lebewohl zu. Hier bramarbasiren Soldaten von ihren Heldenthaten – dort füttern Kostweiber kleine schreiende Weltbürger, die sie sich aus dem Findelhause geholt, Lachen und Weinen, Jodler und Thränen, Zanken und Küssen, Trübsinn und Heiterkeit rings umher, – doch überall, unter Weinen und Lachen, feiert der alte unverwüstliche Wiener Humor seinen Sieg.

Da durchschneidet die markerschütternde Dampfpfeife die glänzenden Räume – es naht ein Zug – eine riesige Wagenschlange braust keuchend daher – das wimmernde Ungethüm hält – die Herzen der Harrenden schlagen ungestüm Freunden und Verwandten entgegen – es wird lebendig auf der Ankunftstreppe – ein jauchzendes „Eljen!“ erschallt, und der theure Amnestirte liegt in unsern Armen.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_343.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)