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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 27.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Mit Heinrich zugleich war Rosa eingetroffen. Felicitas erhielt deshalb von Frau Hellwig die Erlaubniß, in die Stadt zurückzukehren. Sie wußte, daß Tante Cordula eine ausgezeichnete Brandsalbe in ihrem reichhaltigen Medicinkasten hatte, und eilte sofort, indeß Heinrich das Haus bewachte, hinauf in die Mansarde.

Während die alte Mamsell bestürzt die kühlende Salbe hervorholte und mit sanfter Hand den verletzten Arm verband, erzählte Felicitas den Vorfall. Sie sprach hastig, in fliegenden Worten. Physischer Schmerz und Gemüthsbewegung hatten sie in eine fieberhafte Aufregung versetzt. Noch siegte indeß der starke Wille des Mädchens über die Leidenschaftlichkeit; als aber Tante Cordula ruhig einwarf, sie hätte die ärztliche Hülfe nicht zurückweisen sollen, da brach die letzte mühsam behauptete Schranke.

„Nein, Tante!“ rief sie hastig, „die Hand soll mich nicht berühren, und wenn sie mich aus Todesnoth erretten könnte! … Die Menschenclasse, aus der ich stamme, ist ihm ‚unsäglich zuwider‘. Dieser Ausspruch aus seinem Munde hat einst mein Kinderherz bis in den Tod betrübt – ich werde ihn nie vergessen! … Seine Pflicht als Arzt ließ ihn heute für einen Moment den Abscheu überwinden, den er gegen die ‚Paria‘ fühlt – ich will sein Opfer nicht!“

Sie schwieg erschöpft und ihr Gesicht verzog sich im Schmerz, den ihr die Wunde verursachte.

„Er ist nicht mitleidslos,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „ich weiß es, er versagt sich Genüsse um seiner armen Patienten willen. An jedem Anderen würden mich solche fortgesetzte Opfer, solch’ stille Tugend zu Thränen rühren, hier aber empören sie mich wie an einer anderen Menschenseele das Laster… Ich bin unedel, Tante, niedrig denkend – ich fühle es wohl, aber ich kann mir nicht helfen, es verursacht mir heftige Pein, Zorn und Groll, an ihm etwas bewundern zu sollen, den ich bis in alle Ewigkeit verabscheue!“

Einmal vom Boden strenger, Zurückhaltung und Verschlossenheit gewichen, beklagte sie sich auch heute zum ersten Mal bitter über das herzlose Benehmen der jungen Wittwe. Jener eigenthümliche, rothe Fleck erschien, wenn auch flüchtig, unter dem linken Auge der alten Mamsell.

„Kein Wunder – sie ist ja Paul Hellwig’s Tochter!“ warf sie hin. In diesen wenigen, mit schwacher, aber schneidender Stimme gesprochenen Worten lag eine strenge Verurtheilung. Felicitas horchte überrascht auf. Nie hatte Tante Cordula eine Beziehung zu irgend einem Hellwig’schen Familienglied berührt – die Nachricht von der Ankunft der Regierungsräthin hatte sie damals schweigend und scheinbar völlig theilnahmlos angehört, so daß Felicitas annehmen mußte, die Verwandten am Rhein haben ihr zeitlebens fern gestanden.

„Frau Hellwig nennt ihn den Auserwählten des Herrn, den unermüdlichen Streiter für den heiligen Glauben,“ sagte das junge Mädchen nach einer kurzen Pause zögernd. „Er muß ein glaubensstrenger Mann sein, einer jener finsteren Eiferer, die zwar mit eiserner Consequenz nach Gottes Geboten leben, aber auch eben deshalb unerbittlich und unnachsichtig die Fehler und Schwächen Anderer richten.“

Ein leises, heiseres Gelächter schlug an Felicitas’ Ohr. Die alte Mamsell hatte jene eigenthümliche Art von Gesichtszügen, bei welchen man nie fragt: „sind sie schön oder häßlich?“ Die herzerquickende Sprache weiblicher Sanftmuth und Güte, eines tiefsinnenden Geistes vermittelt hier zwischen den strengen Anforderungen der Schönheitsgesetze und der eigenwillig formenden Natur – wo die Linie abweicht, da ergänzt der Ausdruck, aber eben deshalb kann uns auch diese Gattung Gesichter plötzlich vollkommen fremd werden, sobald ihre gewohnte Harmonie gestört wird. Tante Cordula erschien in diesem Augenblick förmlich unheimlich; es war ein Hohngelächter, wenn auch ein leises, gedämpftes, welches sie ausstieß, ihr sonst so stilles, liebes Gesicht hatte etwas Medusenhaftes durch den plötzlichen Ausdruck unsäglicher Bitterkeit und einer namenlosen Verachtung. Jene Aeußerung im Verein mit dem seltsamen Gebahren der alten Mamsell warfen abermals einen schwachen Lichtreflex auf ihre geheimnißvolle Vergangenheit, aber nicht ein leitender Faden wurde sichtbar in dem dunklen Gewebe, und auch jetzt that sie Alles, um den Eindruck ihres momentanen Sichgehenlassens bei dem jungen Mädchen zu verwischen.

Auf dem großen, runden Tisch mitten im Zimmer lagen verschiedene Mappen, sie waren geöffnet. Felicitas kannte die zerstreut umherliegenden Blätter und Hefte sehr gut. Da, auf grobem, vergilbtem Papier, mit verblichener Tinte und oft in sehr verzwickten Hieroglyphen hingeworfen, leuchteten Namen, wie Händel, Gluck, Haydn, Mozart – es war Tante Cordula’s Handschriftensammlung berühmter Componisten. Bei Felicitas’ Eintritt in das Zimmer hatte die alte Dame in den Papieren gekramt, die, Jahre lang unausgelüftet hinter den Glasscheiben liegend, jetzt einen durchdringenden Modergeruch ausströmten. Sie nahm schweigend die Arbeit wieder auf, indem sie die Papiere mit großer Vorsicht und Behutsamkeit in die Mappen schob. Der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_417.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)