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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und des Landesausschusses 1848 bis 1849 in diesem Sinne eifrig gewirkt, in gleicher Weise auch für Ein- und Durchführung der vom Parlamente end- und rechtsgültig beschlossenen Reichsverfassung.

Die schönen Träume, in welchen sich das deutsche Volk gewiegt, verflogen nur zu bald, die nationale Sache unterlag nach kurzem Kampfe und die allerwärts sich kundgebende Reaction bemächtigte sich mit gieriger Hand aller Derer, welche im Streite für die Interessen des Volkes eine hervorragende Rolle gespielt hatten. Es konnte daher nicht fehlen, daß auch Scherr zu diesen gezählt wurde, weshalb er, um den drohenden Verfolgungen zu entgehen, den vaterländischen Boden zu verlassen beschloß. Er hatte keine Ahnung, daß er am 11. August 1849, zur Stunde, wo die Kammer aufgelöst ward, unter wahrhaft lächerlicher Entfaltung militärischer Macht verhaftet werden sollte, als ihm ein Stuttgarter Polizeidiener vertraulich eine bestimmte Warnung zukommen ließ, ohne Zweifel aus Dankbarkeit dafür, daß Scherr in der Kammer für eine bessere Besoldung der Polizeidiener nachdrücklich gesprochen hatte. Nur mit genauer Noth entkam der Gewarnte zufolge der von seiner Frau glücklich getroffenen Vorkehrungen aus Stuttgart und über den Bodensee nach der Schweiz. Bald darauf ward der Flüchtling in contumaciam zu einer Zuchthausstrafe von sechszehn Jahren verurtheilt. Hätte er es der Mühe werth gehalten, zur Untersuchungshaft und Procedur sich zu stellen, so würde er wahrscheinlich, wie seine Mitangeschuldigten, freigesprochen worden sein; allein er zog es vor, als freier Bürger in der Schweiz zu leben, wohin er mit ganzer Seele gehörte. Dafür ergoß sich jetzt selbstverständlich die ganze wüste Fluth der Lästerung und Verleumdung über ihn; noch Jahre hernach sprach er mit unverhohlener Bitterkeit in vertrauten Kreisen von der unglaublichen Lieblosigkeit und Gemeinheit, denen nach seiner Flucht seine in Stuttgart zurückgelassene Frau ausgesetzt war. Dagegen erzählte er in der heitersten Laune, wie er eines schönen Sommermorgens mit einer Frau Hofräthin aus Stuttgart im Garten des Badehotels Hof Ragaz bei Pfäffers zusammentraf und die gnädige Frau, welche ihn nicht kannte, ihm die abenteuerlichsten Erfindungen über die Person des p. p. Scherr mittheilte. Unter Anderem erzählte sie ihm, daß der „Erzjacobiner“ Scherr seinen Sohn auf den Namen Robespierre habe taufen lassen. Als er bei diesen Worten die Frau Hofräthin mit der freundlichen Bemerkung unterbrach: „Aber meine Beste! mein Sohn heißt ja nicht Robespierre, sondern Bruno!“ wäre die Gnädige vor Schrecken schier in Ohnmacht gefallen.

Im Jahre 1850 habilitirte sich Scherr als Docent an der Universität Zürich, zog aber zwei Jahre später aus Familienrücksichten in das ihm altbefreundete Winterthur, wo er während der Wintermonate dankbar aufgenommene Vorträge hielt und acht Jahre hindurch seinen Studien und literarischen Arbeiten lebte, bis er 1860 zur Professur der Geschichte an das eidgenössische Polytechnikum in Zürich berufen wurde. Hier lebt und wirkt er noch gegenwärtig. Der Geschichtsprofessor hat in dieser Stellung Erfolge errungen, welche selbst seine bittersten Gegner ihm nicht werden bestreiten können; seine durch Kraft und Geist belebenden und durch glänzenden Vortrag fesselnden Collegien zählen zu den beliebtesten und besuchtesten.

Soviel über das vielbewegte Leben des berühmten Schriftstellers. In zwei Worten ist sein Wirken in Zürich niedergelegt: Amt und Arbeit. In jenem geht er, wie gewohnt, seinen eigenen Weg, diese setzt er immer noch mit gleicher Lebendigkeit fort, obgleich seine Gesundheit oft warnt. Daneben lebt er, wohl durch ursprüngliche Neigung und Erfahrung bestimmt, ziemlich isolirt und zurückgezogen; nur wenigen verwandten Geistern zugänglich, weicht er der Menge und ihrem Lärm aus. Dem öffentlichen Leben steht er als scharfer Beobachter gegenüber, Einfachheit und Geradheit sind die Grundzüge seines ganzen Wesens. Wenn es je einen Schriftsteller gab, der nie etwas Anderes schrieb, als was er selbst innerlich durchgefühlt und durchdacht hat, so ist er es.

Scherr ist etwas über Mittelgröße und hager; sein nicht eben schönes Gesicht drückt in festen Linien mehr die kritische Schärfe als die Phantasie und das Gemüth aus, die ihm doch gleicher Weise inne wohnen. Neben der Gewalt, mit welcher er alles Hohle und Faule, alles Bornirte und Befirnißte niederschmettert, offenbart sich in seinem Benehmen doch Gutmüthigkeit, mit der er dem Talente, der Arbeitskraft, der Charakterfestigkeit und dem Unglücke seine Theilnahme widmet.

Als Schriftsteller ist unser Scherr fruchtbar wie nur wenig und zugleich ein ganzer Mensch in des Wortes vollster Bedeutung, freidenkend in allen Sachen des Staates, wie denen der Religion, deren kirchliche Fesseln er längst abgestreift hat. Außer seinen novellistischen und satirischen Schriften, welche dreißig Bände umfassen und deren einzelne Titel wir hier aufzuzählen unterlassen, zeichnet er sich insbesondere als Literar- und Culturhistoriker aus. Auf diesem Gebiete haben wir vor allem zu nennen seinen Bildersaal der Weltliteratur –, seine Deutsche Cultur- und Sittengeschichte (vielleicht sein Hauptwerk und jetzt schon in dritter Auflage) –, seinen Schiller und seine Zeit –, die Geschichte der Religion –, die Geschichte der deutschen Frauenwelt, zwei Bände –, Blücher, seine Zeit und sein Leben –, Studien –, und Aus der Sündfluthzeit. – Gegenwärtig soll er, wie wir hören, an einer Geschichte der Jahre 1848 bis 1851 arbeiten, wozu er seit langer Zeit die umfassendsten Vorarbeiten vollendet hat.

Scherr’s Feder ist nicht berufen zum Frieden, sondern zum Krieg; er ist der Mann des Kampfes. Das faul und alt Gewordene wegzufegen und dem freien Culturfortschritt reine Bahn zu machen, ist das Ziel seines energischen Ringens und eines seiner Verdienste, daß er unter den Ersten stand, welche in der Beurtheilung des geschichtlichen Ganges den Culturelementen die bedeutsame und organische Stellung anwiesen, die es jetzt einnimmt. Wie bekannt, hat er es auch als der Erste unternommen, den Verlauf der deutschen Cultur- und Sittengeschichte von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart herab zu zeichnen. In diesem Buche, wie in allen seinen Büchern, ist sein Auge immer auf die politische und sociale Entwickelung gerichtet, in der Art, daß er selbst da, wo er Bilder aus den ältesten Zeiten und fernsten Ländern vorführt, in erster Linie in’s lebende Geschlecht energische Mahnungen und Aufforderungen richten will. Scharf individuell, weckt seine Schreibweise Liebe oder Haß; Beides dient ihr, und in jedem Fall fesselt sie; Sprache und Gedanken haben Farbe. Bitter, oft von juvenalischem Spott, rücksichtslos durchgreifend, hat er doch immer eine ernste und strenge Endabsicht; es muß vorwärts gehen, thut die Reform es nicht, so mag die Revolution über die abgelebten Geschlechter hinwegrollen. Jede seiner Schriften ist eine That. Am tiefsten haßt er die liebe liberal-constitutionell schwatzende Mittelmäßigkeit.

In seinem geschichtlichen Urtheil ist er stets scharf, treffend, oft schroff, aber nie ungerecht, denn sein ganzes Sein und Wesen ist nur dem Dienste der Wahrheit gewidmet, obschon wir nicht leugnen wollen, daß sich häufig bei ihm eine gewisse Schadenfreude kundgiebt, ein geheimer Kitzel, über die Fehler und Schwächen der Fürsten und ihrer Creaturen recht schonungslos zu urtheilen. Die ungemeine Belesenheit Scherr’s leuchtet aus jeder Seite seiner Schriften hervor und es dürfte nicht wohlgethan sein, auch nur ein Blatt zu überschlagen, da fast jede Zeile ihre vollste Bedeutung hat. Die drastischen Gestalten und dramatischen Gruppirungen, die charakteristischen Schlag- und Kraftworte, die kecken Parallelen geben Allem, was er schreibt, ein ganz besonderes Relief; seine geschichtlichen Werke lesen sich mit der spannenden Anziehungskraft eines Dramas, woraus wohl zum Theil der außerordentliche Erfolg, den sie bei der deutschen Lesewelt gefunden, zu erklären ist. Dabei kann Scherr mit allem Rechte sich rühmen, zu arbeiten im Dienste der gewissenhaften Arbeiterin Geschichte, deren vollauf genügende Aufgabe „die riesige und undankbare ist, den Weltaugiasstall des Köhlerglaubens mit dem eisernen Kehrbesen der Wahrheit reinzufegen.“

Seine politische Ueberzeugung hat er am Schlusse seiner Deutschen Culturgeschichte in folgenden Worten ausgesprochen:

„..… Deutschland ist nicht das Land der Initiative. Es liegt in unserem Nationalcharakter etwas Schwerfälliges, was des Anstoßes von außen her bedarf, um in Bewegung zu gerathen; aber es liegt in ihm zugleich auch die Kraft der Durchdringung, eine unbeugsame Ausdauer, welche nicht abläßt den einmal betretenen Weg bis an’s Ende zu verfolgen, und führte er auch an tausend Schwindel erregenden Abgründen vorbei und mitten durch das wildverwachsene Gestrüppe zahlloser Vorurtheile hinauf zu jenen Aetherhöhen des Gedankens, vor deren unerbittlich scharfer Luft andere Nationen furchtsam zurückbeben.“

Ein letzter Zug, den wir einer in den verflossenen Jahren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_470.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)