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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

sie sich einen Riß in dem verdorbenen Kleid mit einer Nadel zusammensteckte. „Wäre ich bei Dir geblieben, Tantchen, in Deinem stillen Zimmer! Tausend Unbequemlichkeiten, sag’ ich Dir – wohin wir uns auch wenden mochten, stets einen Gewitterregen auf den Fersen, und dazu die unglaublich schlechte Laune meines Herrn Cousin Isegrimm! … Du machst Dir keinen Begriff, Tantchen, wie rücksichtslos und – liebenswürdig er gewesen ist! Er hätte am liebsten gesehen, wir wären schon am ersten Tag wieder umgekehrt. Und was für Mühe haben wir uns gegeben, sein bösartig finsteres Gesicht freundlicher zu machen! Fräulein von Sternthal hatte sich mit solchem Eifer in ihre Aufgabe versenkt, daß ich jeden Augenblick erwartete, sie werde eine Liebeserklärung in Scene setzen. – Nun, sag’ selber, Johannes, war sie nicht die Bereitwilligkeit und Zuvorkommenheit selbst?“

Was der Professor antwortete, konnte Felicitas nicht verstehen. Sie war bereits unter den Nußbaum zurückgekehrt und arbeitete weiter in der Hoffnung, daß man sich nicht um sie kümmern werde… Das sah bös und drohend aus da drüben! Noch lag die grelle Röthe einer heftigen Aufregung auf den Wangen der Frau Hellwig, und die schlechte Reiselaune ihres Sohnes war keinenfalls verbessert worden durch die Empfangsscene.

Eine Zeitlang schien es, als solle die einsame Näherin unter dem Nußbaum in ihrer Zurückgezogenheit unangefochten bleiben; aber einmal schlüpfte ihr Blick durch die Lücke der Taxushecke und fiel zugleich auf die Gestalt des Professors. Er kam ruhig schlendernd, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, über den Kiesplatz; seine Züge hatten jedoch, ganz im Gegensatz zu seiner nachlässigen Haltung, etwas Erregtes, Gespanntes, und sein Blick drang unruhig in die verschiedenen Gänge zwischen den verschnittenen, grünen Wänden.

Felicitas saß bewegungslos und beobachtete ihn; unwillkürlich hatte sie die Rechte auf ihr klopfendes Herz gelegt – ihr war fast unheimlich zu Muthe – sie fürchtete sich vor dem Moment, wo sein Blick auf sie fallen mußte… Noch langsamer als zuvor schritt er auf dem schmalen Kiesweg weiter, der den großen Wiesenfleck umfaßte. Sein Haupt war unbedeckt – war es der eigenthümliche, völlig ungewohnte Ausdruck, oder hatte seine Gesichtsfarbe den kräftigen Ton verloren – der Kopf erschien dem jungen Mädchen verändert.

Er griff in die Zweige eines Apfelbaumes, zog sie zu sich nieder und betrachtete die sich ansetzenden Früchte scheinbar mit ungetheiltem Interesse – er sah jedenfalls das Mädchen unter dem Nußbaum nicht. Die Zweige schnellten wieder empor und er setzte seinen Weg fort. Jetzt stand er in gleicher Richtung mit Felicitas; er bückte sich rasch und pflückte irgend ein am Wiesenrand befindliches Etwas.

„Ah, sehen Sie doch, Felicitas, ein vierblätteriges Kleeblatt!“ rief er hinüber, ohne aufzublicken. Das klang so ruhig und zuversichtlich, als sei sein Verkehr mit ihr nie unterbrochen oder getrübt gewesen, als sei es selbstverständlich, daß sie da drüben unter dem Nußbaum sitze; aber es lag auch zugleich eine gebieterische Nothwendigkeit in dieser Anrede, er fesselte das Mädchen gewissermaßen an die Stelle, wo es sich jetzt erhob.

„Die Leute sagen, diese vier Blättchen bringen dem Finder Glück,“ fuhr er fort, indem er rasch über die Wiese herkam. „Nun, ich werde ja gleich sehen, in wie weit es leidiger Aberglaube ist!“

Er stand vor ihr. Jetzt lag auch etwas Straffes, die ganze Energie des willensstarken Mannes in seiner Haltung. Das Kleeblatt entfiel seinen Händen, er streckte sie beide Felicitas entgegen.

„Guten Abend!“ sagte er – es waren bebende Laute, in denen diese zwei einfachen Worte gesprochen wurden. Hätte er einst vor Jahren diesen Ton angeschlagen, dann wäre er dem neunjährigen Kind gegenüber, das mit aller Heftigkeit eines leidenschaftlichen Herzens Liebe und Theilnahme verlangte, gerechtfertigt gewesen – für diese verfinsterte, von ihm so lange gemißhandelte Mädchenseele jedoch blieb der süßvertrauliche Gruß, in welchem sich unverkennbar die Wonne des Wiedersehens abspiegelte, geradezu unverständlich. Gleichwohl hob sie die Hand – sie, dis Paria, die seine Hand in der höchsten Todesnoth zurückstoßen wollte, sie legte, von einer unerklärlichen Macht getrieben, für einen Moment leise ihre Rechte in die seine. Es war das eine Art von Wunder, und er faßte es wohl selbst so auf – eine einzige unachtsame Bewegung konnte es verscheuchen auf Nimmerwiederkehr… Mit der ganzen Selbstbeherrschung, die der Arzt sich errungen, ging er sofort in einen andern Ton über.

„Hat Ihnen Aennchen viel Last gemacht?“ fragte er freundlich und theilnehmend.

„Im Gegentheil – die Anhänglichkeit des Kindes rührt mich – ich pflege es gern.“

„Aber Sie sind bleicher als sonst – und da der bitter schwermüthige Zug um Ihren Mund ist schärfer ausgeprägt als je… Sie sagten vorhin, die Anhänglichkeit des Kindes rühre Sie – andere Leute sind auch anhänglich, Felicitas! Ich werde Ihnen das sogleich beweisen. Sie haben gewiß nicht ein einziges Mal an die Menschen gedacht, die der kleinen Stadt X. entflohen waren, um sich Seele und Willen in der kräftigen Waldluft zu stählen?“

„Ich hatte weder Zeit, noch Anknüpfungspunkte dazu,“ entgegnete sie stark erröthend, aber mit finsterem Ausdruck.

„Das setzte ich voraus. Ich aber bin menschenfreundlicher gewesen, ich habe an Sie gedacht – Sie sollen auch erfahren, wann und wo… Ich sah eine Edeltanne ganz allein auf einer Felsenzacke stehen – es sah aus, als sei sie in dem Nadelwald zu ihren Füßen verwundet und gekränkt worden, und sie habe sich auf die einsame Höhe geflüchtet. Dort stand sie fest und finster, und meine Phantasie lieh ihr ein Menschengesicht mit wohlbekanntem, stolzverächtlichem Ausdruck. Da kam ein Gewitter, der Regen peitschte ihre Zweige und der Sturm schüttelte sie unbarmherzig, aber nach jedem Stoß richtete sie sich auf und stand fester als zuvor.“

Felicitas hatte die Augen halb scheu, halb trotzig zu ihm aufgeschlagen… Wie seltsam verändert war er zurückgekehrt! Der Mann mit den kalten, stahlgrauen Augen, der ehemalige Pietist und Mystiker, der eingefleischte Conservative, dem Gesetz und Regel jeden Funken poetischer Freiheit erstickt haben mußten, er, der Pedant, den der Gesang der menschlichen Stimme belästigte, er erzählte ihr mit seiner tiefen Stimme, die der ernsten Wissenschaft mit so mächtigem Erfolge diente, eine Art Märchen, ein selbsterfundenes, dessen Sinn sie nicht mißverstehen konnte.

„Und denken Sie,“ fuhr er fort, „da stand ich nun drunten im Thal, und meine Begleiter schalten den unpraktischen Professor, weil er sich vollregnen lasse, während er doch unter Dach und Fach flüchten konnte. Sie wußten ja nicht, daß ihn, den trockenen, nüchternen Doctor, plötzlich eine Vision gepackt hatte, die sich weder durch kalte Regenschauer, noch durch den Sturm verscheuchen ließ. … Er sah nämlich, wie ein Muthiger den Wald verließ, den Felsen hinaufkletterte, droben die Arme um die Tanne legte und sagte: ‚Du bist mein!‘ … Und was geschah weiter?“ –

„Ich weiß es,“ unterbrach ihn das Mädchen in tiefen, grollenden Tönen; „die Einsame blieb sich selbst getreu und brauchte ihre Waffen.“

„Auch als sie einsah, daß er sie fest und sicher an sein Herz nehmen werde, Felicitas? Als sie erkannte, daß sie an diesem Herzen getrost ausruhen könne von allen Stürmen, daß er sie zärtlich behüten werde, wie seinen Augapfel, sein ganzes Leben lang?“

Der Erzähler hatte sich offenbar mit einer Art von Leidenschaft in das Geschick seiner zwei Visionsgestalten versenkt, denn er sprach mit zuckenden Lippen, und in seiner Stimme wurden alle jene Klänge wach, die Felicitas’ Herz am Krankenbett des Kindes erschüttert hatten – jetzt verhallten sie machtlos.

„Die Einsame wird erfahrungsreich genug gewesen sein, zu wissen, daß er ihr ein Märchen erzählte,“ versetzte sie hart. „Sie sagen selbst, sie habe den Sturmstößen getrotzt – nun wohl, sie hatte sich selbst gestählt und brauchte keine andere Stütze!“

Es war ihr nicht entgangen, wie ihm allmählich die Farbe aus dem Gesicht wich – er sah für wenige Secunden erdfahl aus. Es schien fast, als wolle er sich abwenden und gehen, aber näherkommende Schritte wurden laut. Er blieb dicht neben Felicitas stehen und erwartete ruhig seine Mutter, die am Arm der Regierungsräthin zwischen den Taxuswänden hervortrat.

„Nun, das nimm mir aber nicht übel, Johannes,“ schalt sie, „da stehst Du, hältst die Caroline von der Arbeit ab und lässest uns unverantwortlich mit dem Abendbrod warten! Glaubst Du denn, ich liebe es, wenn die Eierkuchen zu Leder werden?“

Die Regierungsräthin ließ den Arm der Tante los und schritt über die Wiese. Sie sah bei Weitem nicht so hübsch aus

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_482.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)