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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

schon wieder, die Mutterbrust oder ein Zuller, Schnuller, Zulp, wie jener barbarische Knebel für kleine Schreihälse in den verschiedenen Winkeln unseres Vaterlandes genannt werden mag, ein simples Spielzeug sind Beruhigungsmittel, welche vereint mit dem Moment, wo der schreckliche Mann, der das arme Kleine in sein Aermchen gestochen hat, aus dessen Gesichtskreis getreten, allgemach die aufgeregten Wogen der öffentlichen Meinung sämmtlicher Herren und Damen im Säuglingsalter beschwichtigen. Leider setzt sich als Folge jener empfindlichen Berührung bei der verehrlichen Corporation der Wickelkinder eine gewisse Voreingenommenheit gegen den wackeren Gerichtsarzt fest, welche sich in der eine Woche später stattfindenden Controle beim bloßen Erblicken desselben in lauter Acclamation, aber nicht der des Beifalls, zu erkennen giebt.

Die Operation ist nun vorüber, achtzig bis neunzig kleine Kinder sind in beide Arme gestochen, haben sich rechtschaffen ausgeschrieen; die Liste weist nach, daß mit Ausnahme der „Bärbel (Barbara) von Dörflas“ und des „Hans Görg von Ochsenreuth“, sowie der „Anna Meigel (Margarethe) von Mistendorf“, sämmtliche zur Impfung reife Kinder gebracht wurden, und der Ortsdiener hat „g’horschamst zu vermelden“, daß die Genannten aus dieser oder jener Ursache nicht gebracht werden konnten.

Alles in Ordnung und Richtigkeit, und wir mögen uns nun wieder unsrer alten Kutsche anvertrauen. Doch nein, so ab zu kutschiren, ohne dem löblichen Brauch des Bratwurstvertilgens auch von unserer Seite gebührend zu huldigen, wäre ein grober Verstoß gegen die ländliche Etikette. Aus der Küche dringen liebliche Düfte und dabei brodelt, knistert und spratzelt es recht vernehmlich; gehen wir denn in die große Unterstube. In dieser, bis weit auf den Vorplatz hinaus sitzen die guten Mütter von vorhin dicht beisammen und stärken sich nach der ausgestandenen Gemüthsbewegung an tüchtigen Portionen jener delicaten Bratwürste, wie sie, nur noch kleiner, den meisten Touristen von dem „Herzla“ oder „Glöckla“, Nürnbergs berühmten Bratwurstküchen, her bekannt sind. Bratwürste gehören hier zu Lande zu jedem bedächtigen Unternehmen und zu jedem Ereigniß von einiger Bedeutung, und sie geleiten den Landmann von der Wiege bis zur Bahre durch das Leben, bei Kindtaufe, Hochzeit und Leichenschmauß, bei Kirchweih- und anderen Festen, auf Märkten, bei Käufen und Abschlüssen. Bratwürste mit Sauerkraut sind ein Pflaster auf brennende Herzenswunden, ein Beruhigungsmittel für aufgeregte Leidenschaften, Mehrer der Fröhlichkeit, Beförderer von Handel und Wandel.

So huldigten auch wir gern dem landesüblichen Leckerbissen, als er uns in einem Dutzend Exemplaren auf blankem Zinnteller gebracht wurde, und glaubten dieselben am besten dadurch zu ehren, daß wir sie bis auf den letzten Zipfel vertilgten. Indessen wurde in der Stube des Lärmens von so vielen muntern Weiberzungen allmählich weniger. Durch das Fenster sah man da und dorthin Frauen mit ihren Kleinen auf Flurwegen ihren Dörfern und Gehöften zueilen, und ein Wägelein nach dem andern rollte ab. In einer Ecke aber saß die Frau, von deren Kind abgeimpft wurde, und zählte mit sichtlicher Befriedigung den von den Müttern an den Impfstock in Groschen und Sechskreuzerstücken entrichteten Tribut, der sich wohl auf nahezu zehn Gulden belief, eine Summe, wie sie die arme Taglöhnersfrau noch nicht so groß beisammen gesehen haben mochte, und die Freude an dem reichlichen Verdienst war der guten Frau, die sich Jahr aus Jahr ein an der Seite ihres Mannes um kargen Lohn plagen mußte, um fünf hungrige Mäuler zu stopfen, von Herzen zu gönnen. Ob sie unsern wohlgemeinten Rath, das Geld für den Kleinen bei einer Sparcasse anzulegen, befolgte, muß freilich dahin gestellt bleiben; sie lächelte recht bittersüß dazu und schien sich mit näher liegenden Finanzplänen zu tragen.

Heiter angeregt bestiegen wir, die wir zusammen angekommen waren, unser gebrechliches Fuhrwerk und kehrten in das Städtchen zurück. Der nächste Bahnzug dampfte mich heim nach Nürnberg, wo ich mich in der Frische des Eindrucks daran machte, dem freundlichen Leser der Gartenlaube mit Stift und Feder ein Bild aus dem Leben unseres Volkes vor Augen zu stellen, wie deren noch gar manche nur des Momentes harren, welcher ihre flüchtige Erscheinung zu dauernder Gestaltung befestigt. R. G.




Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)


„Ich erfahre erst in diesem Moment, daß er nicht mehr lebt,“ entgegnete Felicitas bebend, während ihre Mundwinkel krampfhaft zuckten und eine Thräne in ihr heißes Auge trat. Aber trotz der Gemüthserschütterung, die ihr die Nachricht brachte, fühlte sie doch eine Art von schmerzlicher Genugthuung; Frau Hellwig hatte ja oft genug gesagt, ihr Vater ziehe als liederlicher Strolch in der Welt umher und frage viel danach, was es andern Leuten koste, sein Kind aufzufüttern.

„Ah, es thut mir leid, daß ich dazu berufen war, Ihnen diese niederschlagende Mittheilung zu machen!“ rief Herr von Hirschsprung, bedauernd den Kopf hin und her wiegend. „Mit ihm haben Sie freilich den einzigen Verwandten verloren, der Ihnen nach dem Tode Ihrer Mutter geblieben ist… Es gab eine Zeit, wo ich der Vergangenheit dieses Mannes nachforschte – er hat von zarter Jugend an allein gestanden in der Welt – es ist beklagenswerth, aber Sie haben Niemand mehr von Ihrer Familie.“

„Und darf man fragen, Herr von Hirschsprung, in welcher Beziehung die Mutter dieses jungen Mädchens zu Ihrer Familie gestanden hat?“ rief die Hofräthin, empört über die erbarmungslose Art und Weise, wie er Felicitas aus dem Bereich seiner adligen Sippe hinauswies.

Ein fahles Roth flackerte über sein Gesicht… So hinreißend das Erröthen auf den Wangen der Unschuld ist, so widerwärtig berührt es uns in dem Gesicht eines hochmüthigen Mannes, den wir im offenbaren Kampfe sehen, ob er etwas ihn Demüthigendes vor uns verbergen soll oder nicht.

„Sie war einst meine Schwester,“ antwortete er mit klangloser Stimme, aber das Wort ‚einst‘ scharf markirend; „ich habe es geflissentlich vermieden, diese Beziehung zu betonen,“ fuhr er nach einer ziemlichen Pause fest fort, „so wie die Sachen liegen, bin ich zu Erörterungen gezwungen, die mich möglicherweise rücksichtslos erscheinen lassen… Ich muß dieser jungen Dame Mittheilungen über ihre Mutter machen, die ihr besser erspart geblieben wären… Frau d’Orlowska hat in dem Augenblick, wo sie dem Polen die Hand reichte, für alle Zeiten aufgehört, ein Glied der Familie von Hirschsprung zu sein… In unserem Familienbuch steht nicht, wie gebräuchlich, hinter ihrem Namen, mit wem diese Tochter des Hauses vermählt war – in dem Moment, wo sie zum letzten Mal über unsere Schwelle geschritten ist, hat mein Vater mit eigener Hand ihren Namen durchstrichen – das war tausend Mal härter für sein aristokratisches Gefühl, als wenn er das Todtenkreuz hätte hinzeichnen müssen… Seitdem ist der Name Meta von Hirschsprung spurlos verschollen für uns – kein Freund des Hauses, kein Diener hat je gewagt, ihn wieder laut werden zu lassen; meine Kinder wissen nicht, daß sie je eine Tante gehabt haben – sie ist enterbt, verstoßen und war längst für uns gestorben, ehe sie auf eine so schreckliche Weise endete.“

Er schwieg einen Augenblick. Die Hofräthin hatte während dieser in wahrhaft vernichtender Weise gegebenen Enthüllungen ihren Arm um Felicitas gelegt und sie mütterlich liebevoll an sich herangezogen… Und dort stand der Professor – er sprach nicht, aber sein Auge ruhte unverwandt und innig auf dem blassen Gesicht des Mädchens, das abermals für seine todte, „vergötterte“ Mutter so schwer leiden mußte… Es entstand eine momentane, peinvolle Stille. In diesem Schweigen lag unverkennbar eine strenge Verurtheilung; auch der Sprechende vermochte nicht, sich diesem Eindruck zu entziehen – stockend, mit unsicherer Stimme fuhr er fort: „Seien Sie versichert, daß es für mich eine sehr schwere Aufgabe ist, Ihnen in der Weise wehe thun zu müssen – ich erscheine mir selbst in einem so – so unritterlichen Lichte, aber, mein Gott, wie soll ich denn die Dinge anders beim Namen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_604.jpg&oldid=- (Version vom 28.12.2020)