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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„Sie denken wohl, es sind Fluchtpläne in dem Paket? Nichts davon. Was es ist, brauchen Sie gar nicht zu wissen. Sie können, wenn es herauskommen sollte, beschwören nichts gewußt zu haben – ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß es das harmloseste Päckchen auf dem Erdballe ist. Ich werde Ihnen doch nichts Gefährliches aufbürden. Uebrigens wer soll denn die Abgabe merken? Sie verbergen das kleine Ding in der Seitentasche mit Leichtigkeit, und unter dem Gefolge des kaiserlichen Commissärs wird Niemand einen Mann vermuthen, welcher dem Gefangenen gefährliche Papiere zusteckt. Reisen Sie mit Gott!“

Welle schob das Paket mechanisch in die Tasche. Zehn Tage später befand er sich mit Baron Stürmer und dessen Gefolge auf hoher See. „Land!“ wird signalisirt. Aus den Wogen steigt ein schwarzer, ungeheurer Klumpen. Je näher das Schiff kommt, desto schärfer tritt er heran. Basaltfelsen von tiefschwarzer Farbe, die in tausend Splitter geborsten scheinen, tiefe Einschnitte gleich großen Narben – so steht die Insel St. Helena vor den Reisenden. Am Bord des Schiffes ist Alles lebendig. Da liegt das Gefängniß des Kaisers, von Wellen umbrandet; noch ziehen leichte Morgennebel über die Kanten der zackigen Felswände. Die Sonne steigt empor und beleuchtet das Gestein. Jetzt bemerkt man eine Anzahl kleiner, weißer Punkte auf dem Rücken, es sind Schanzen, Wachthäuschen, Bastionen. In allen Wachen und Lärmkanonen, an vielen Punkten Signalstangen – Alles aus Vorsicht und um des gefangenen Kaisers willen. Kaum wird das Schiff bemerkt, als auch schon von den Hafenbatterien her ein Schuß donnert. Es ist keine Begrüßung, es ist eine Warnung. Weiter darf sich die Fregatte der Insel nicht nähern, bevor nicht die Beamten Sir Hudson Lowe’s an Bord gewesen sind. Das Schiff legt bei. Einige Minuten darauf wird es lebhaft im Hafen. Boote fahren durcheinander. Eins – zwei – drei derselben schießen zwischen den Dämmen hervor, sie tragen Bewaffnete und richten ihren Lauf nach der Fregatte. Der Baron von Stürmer versammelt das Personal seiner Gesandtschaft.

„Meine Herren,“ sagte er, „es scheint mir zwar überflüssig, an Sie diese Aufforderung und Warnung zu richten, weil ich überzeugt bin, daß Niemand von Ihnen Verdächtiges bei sich führt, allein Sie haben genug von der Strenge der englischen Behörden vernommen, um meine Warnung zu mißdeuten. Jeden von Ihnen, der das geringste auf Frankreich oder den gefangenen Napoleon Bezügliche bei sich führt – sei es eine Karte, ein Bild oder dergleichen – fordere ich in seinem eigenen Interesse auf, solche Waare über Bord zu werfen oder mir auszuliefern. Die Folgen einer an sich ganz harmlosen Entdeckung möchten schwerer sein, als Sie vielleicht glauben.“

Natürlich meldete sich Niemand. Welle, der mit unter dem Personal gestanden, fühlte sein Blut schneller kreisen. Er kämpfte einige Augenblicke mit sich, ob er das ihm anvertraute Paket dem Baron überliefern sollte; als er die Hand auf seine hochklopfende Brust preßte, fühlte er ein leises Knistern – es war das Couvert, welches den ihm unbekannten Schatz verschloß. Die Beamten erschienen bald an Bord. Daß sie nichts fanden, was Verdacht erwecken konnte, versteht sich von selbst; nur glaubte der schüchterne Welle sich immer ganz besonders beobachtet, und erst als er seinen Fuß auf den Felsboden der Insel setzte, athmete er freier.

Das Wächteramt des Sir Hudson Lowe war thatsächlich ein schreckliches. Nicht nur die schwere Verantwortung, welche auf ihm lastete, machte dem Gouverneur eine fortwährende Pein, er mußte auch den Haß der halben Welt auf seine Schultern nehmen, denn die Einsperrung Napoleon’s auf Helena hatte in ganz entgegengesetzter Weise gewirkt, als seine Feinde ursprünglich beabsichtigten. Der gefangene Kaiser war zum Märtyrer geworden, sein Unglück und die gewaltige Tragödie seines Geschickes ließen Alles vergessen, was er dem Einzelnen zugefügt haben mochte; schon blieb nur der große Mann zurück, dem die Gefangenschaft auf dem einsamen Felsen einen besonderen Nimbus verlieh, welcher ihn ja auch während seines ganzen Lebens umgeben hatte. Da Sir Hudson Lowe der einzige greifbare Gegenstand, als Kerkermeister die unangenehmste Persönlichkeit war, so häufte man auf ihn eine Unzahl von gerechtfertigten und ungerechtfertigten Vorwürfen. Sir Hudson Lowe hatte nicht allein mit der großen Welt, nicht nur mit der Gereiztheit des auf St. Helena gefangenen Kaisers und dessen Begleitung zu kämpfen, er litt auch schwer durch die ihn nie verlassende Unruhe, durch eine Art fixer Idee: daß Napoleon entkommen sei oder entkommen werde. Oft genug sprang Lowe mitten in der Nacht auf von seinem Lager. Er hatte wieder einen Traum gehabt, der ihm vorspiegelte, ein soeben angelangtes Schiff habe den Kaiser befreit, oder ein Luftballon sei niedergelassen worden. Er eilte dann nach Longwood, um sich zu überzeugen, daß der Gefangene noch in Gewahrsam sei, und solche Träume sind die Ursachen der Entstehung der vielen kleinen Schanzen gewesen, welche den Rücken von St. Helena zieren. Plötzlich, unerwartet erschien dann Lowe in Longwood im Salon des Kaisers nach flüchtiger Anmeldung; er wußte alle kleinen Vorgänge, achtete auf jede besondere Bewegung und die Pakete, die Briefe unterlagen seiner strengsten Recherche.

Der gefangene Kaiser und seine treuen Genossen wurden durch solche freilich oft bis zur Lächerlichkeit getriebene Pflichttreue in den größten Zorn versetzt. Beschwerden, Scenen aller Art, sogar Herausforderungen des Gouverneurs waren an der Tagesordnung und Longwood schien ein kleines Reich für sich, welches der gefesselte Titane vertheidigte. Allerdings sah die Reizbarkeit der Franzosen Vieles schwärzer, als es wirklich sein mochte, aber die empörende Tactlosigkeit Sir Hudson Lowe’s war schlimmer, als sein Charakter. Besonders verletzte den Kaiser die vollständige Unterbrechung jeder Verbindung zwischen ihm und seinem Sohne. Höchst selten gelangte ein Briefchen, ein Zeichen kindlicher Aufmerksamkeit des „Königs von Rom“ nach Helena, und dann selbst wurde es den Händen des Kaisers erst nach genauer Prüfung durch Sir Hudson Lowe übergeben, was Napoleon stets als Entweihung betrachtete. Er liebte den fernen Sohn zärtlich. Noch von Elba her besaß er eine Büste desselben, welche der Graf Bausset in Wien hatte anfertigen lassen. Diese Büste stand über dem Bette des Kaisers im Hause auf St. Helena, und Napoleon betrachtete oft das Sculpturwerk halbe Stunden lang schweigend. Kehrte er von einem Spaziergange zurück, dann pflegte er einige Blumen, welche er mitgebracht hatte, an den Sockel der Büste zu lehnen.

Durch die Convention der Mächte schien das Wächteramt Lowe’s erleichtert werden zu sollen, allein es zeigte sich bald, daß die Commissarien ihm eher Verlegenheiten bereiteten. Eines Tages saß man im Salon des Hauses zu Longwood recht vergnügt bei Tische, der gefangene Kaiser hatte den Vormittag über dictirt. Er breitete seine großen Karten, nach denen er die Geschichte seiner Feldzüge arbeitete, auf einem mächtigen Tische aus und folgte mittels eines Stäbchens dem Laufe der Armeen, im Geiste sich noch einmal zurückversetzend in jene Zeiten des Ruhmes und Glanzes, wo die Massen der tapfersten Soldaten einem Worte des Gewaltigen gehorchten. An solchen Tagen war der Kaiser meist heiterer Laune, wenn er einen großen Moment seines Lebens niedergeschrieben hatte. In der ersten Zeit arbeitete er oft Nachts. Er trug dann einen seidenen Schlafrock und leinene Pantalons mit einer Zeichnung bedruckt, die man „Oeil de perdrix“ nannte. Er arbeitete an einem Bureau aus Rosenholz in seinem Fauteuil sitzend. Später dictirte er. Montholon, Gourgaud, Marchand, der Kammerdiener, der junge Las Casas mußten schreiben. Nach der Arbeit ging man zu Tische. Der Kaiser trug Civilkleidung, statt des historischen dreieckigen Hütchens bedeckte er sein Haupt mit einem runden Hute. Gewöhnlich trug er die militärischen Beinkleider, die Weste und Stiefeln, auch den Orden der Ehrenlegion. Bei besonderen Gelegenheiten erschien er in der bekannten Uniform der Chasseurs de la Garde mit dem berühmten Hute. Also – der Kaiser war sehr heiter gestimmt. Bei seiner Ankunft auf Helena hatte er einige Zeit im Hause der Familie Balcombe zugebracht, welche ihm mit größter Liebenswürdigkeit entgegenkam, Alles zu seiner Disposition stellte und dem Kaiser den Eintritt in sein Gefängniß weniger schrecklich machte. Insbesondere waren es die beiden liebenswürdigen Töchter Eliza und Betty Balcombe, deren reizende Unterhaltung der Kaiser gern genoß. Bis zur Vollendung seiner Wohnung in Longwood blieb Napoleon im Hause der Balcombes. Hier nun hatte Miß Betty ihm eines Abends eine höchst seltsame, aber ihrem Herzen Ehre machende Bitte vorgetragen. Auf der Insel befand sich ein alter Sclave, ein Malaie Namens Tobias, den ein englischer Capitain verkauft hatte. Miß Betty interessirte sich für den Alten lebhaft und wünschte, ihn seinen Kindern wiedergegeben zu sehen. Dazu war aber der Loskauf nöthig, und da Miß Betty den gefangenen Kaiser noch immer für mächtig hielt, so trug sie ihm eines Abends den Wunsch vor,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_633.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)