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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 50.

1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Heimath.
Eine Novelle in Briefen von Adolf Wilbrandt.
Briefe Friedrich’s an seine Schwester.


Erster Brief.

Meine liebe Julie, in der Heimath wär’ ich nun also wieder, und das ist es, was ich Dir heute, nach so langen, stummen Zeiten, sagen will; aber – laß mich Dir im Vertrauen sagen: jene stummen Zeiten waren besser! Ich war zum Schreiben zu glücklich, darum schwieg ich. Jetzt, scheint mir, schreib’ ich, weil kein Mensch mir sagen kann, was ich Besseres thun sollte. Ich könnte zwar spazieren gehen, denn wie meine kleine, aufgeregte Madame Winter sagt, das Wetter ist „göttlich schön“, der Himmel blau wie ihr Halstuch, Flieder und Goldregen sehen mir in’s Fenster, die Morgensonne scheint in hundert singende Amsel- und Finkenkehlen hinein; es fehlt nichts als – – Ja, kurz, ich könnte im Morgensonnenschein spazieren gehen. Nur – wohin? Ich weiß hier Alles auswendig. Daß der Weizen und Roggen gut stehen – zehn Meilen in die Runde, auf dieser flachen Erdscheibe – hat mir mein Hauswirth heute früh erzählt. Um die alte Stadtmauer bin ich erst gestern gegangen. Des Nachbars Kohl wird sich seit dem letzten Sonntag wenig verändert haben. Und so sitz’ ich hier und denke einstweilen an Italien, das dort hinüber liegt, jenseits aller Berge. – Ach, mein Italien! Ich hab’ es ungern verlassen.

Julie, wie ich es verließ, das erzähl’ ich Dir ein ander Mal. Mir waren die blauen Meere, die ernsten Flächen, die stillen, vornehmen Berge, die lichten Lüfte lieb wie Menschen geworden. Nun erwach’ ich hier von meinem Traum, im nordischen „Idyll“, im guten Kleinstädternest, und fühle mich ohne Menschen, ohne Luft und Licht, einsam, einsam. Mir ist, wenn ich dieses mein Vaterstädtchen betrachte, wie wenn ich in die Rumpelkammer gerathen wäre und meine alte, wurmstichige, schwerbeinige Wiege wiedersähe. Man hat mich einst sanft und lieblich drin geschaukelt, aber wer wird mit ausgewachsenen Beinen in seine Wiege zurückkriechen? – „Undankbarer!“ sagt meine gute Schwester Julie. Ach, wenn ich Dir’s erklären könnte, was mich in Deinen Augen undankbar macht! wie Einem da unten im „gelobten Land“ die Augen aufgerissen, gefüllt, verwöhnt werden! Wenn ich nun hier umherschlendere und die grell grünen Wiesen anstarre, die hellen Häuser, die philisterhafte Reinlichkeit, die Pappelalleen, – und hinter den kleinen Mauern die kleinen Menschen, die rothen Gesichter und Hände, die – – doch ich will Dich nicht beleidigen; besser, den Mund halten, als die Weisheit fliegen lassen! Ja, ich sollte lieber spazieren gehen oder zu meinen Folianten zurückkehren, als eine mißmuthige Epistel schreiben. Ich sollte –

Meine kleine Madame Winter unterbricht mich eben, die Haushälterin – Du mußt sie kennen, sie hat Dich auf Deinen ersten Schulgängen mit der Schiefertafel am Arm begleitet, wie sie mir erzählt hat. Ich soll Dich von ihr grüßen, bittet sie mit ihrer fettweichen Stimme, wobei sie an der Wand hinfährt und meine Kupferstiche und Photographien zum sechsten Mal abstäubt. Meine einzige gute Gesellschaft, diese Bilder: lauter italienische Erinnerungen, Rom, Neapel, Venedig, und weil ich so oft davor stehe und voll Sehnsucht auf ihnen herumwandere, so denkt Madame, daß sie alle drei Stunden einmal abgestäubt werden müssen. Denn „Reinlichkeit ist ja das halbe Menschenleben“. Als ich hier einzog, lag der frische Sand auf den Fußboden gestreut, noch wie in meinen ersten Jugendzeiten. Ich, ohne Pietät für alte Sitten, hatte nichts Eiligeres, als mir diesen knisternden Teppich für immer zu verbitten. Das war der erste Schmerz, den ich der guten Wittib anthat. Der zweite war, noch ehe sie den ersten verwunden hatte, daß ich ihr die chinesischen Porcellanfiguren mit den wackelnden Köpfen, mit denen sie mir Commode und Schrank geschmückt hatte, in die runden, eingestemmten Arme drückte und sie lachend damit hinausschob. Ich Herzloser lachte, – aber ihr hat ohne Zweifel das rundliche Herz dabei geblutet. Denn was muß sie von einem Menschen denken, der die kleinen, langweiligen, dunklen, angelaufenen Bronzen, die ich mir aus Italien mitgebracht, diesen heiteren, buntbemalten Ungeheuern vorzieht?

– Liebe Julie, verzeihe mir: ich werde dieses unser Wiegennest, dieses Land meiner Jugend, bald wieder verlassen! Hier gedeih’ ich nicht mehr. Unsere Eltern liegen da drunten, und alles Andere, Schwester, ist mir entfremdet. Die Flügel der Empfindsamkeit, die bunten Federn der Knabenträume sind mir ausgerupft. Mich wieder in die alten Gäßchen und Kellerlöcher verlieben, weil mir einst wohl darin war, – dazu fehlt mir das Herz. Wie fühlt’ ich es gestern wieder, als ich auf unseren ersten Spielplatz, den alten Markt, in unser Geburtshaus trat und neben meinem werthen „Gastfreund“, dem Bierbrauers-Eduard, durch das lange Gebäude auf und nieder ging. Es ist Alles noch da: die halbdunkle, hochgewölbte Diele, der mit Brettern gepflasterte Thorweg, die Keller, in denen wir Burgen bauten und Ritter und Mädchenraub spielten, der Boden unter dem Dach, durch dessen Luken wir in die Rinne hinauskletterten und keck zwischen Himmel und Erde spazieren gingen, der große Kaninchenstall und der schmutzige sogenannte „Brunnen“, in den ich mit meinen ersten weißen Frühlingshosen hineinfiel: Alles ist noch da, aber ich fragte mich: wo bist Du geblieben? Mir wurde in den nüchternen Räumen übel zu Muth; ich war wie erquickt, als ich wieder draußen war. Mein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 785. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_785.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)