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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Bänke voll plaudernder Mädchen, die Kinder spielten auf den breiten Trottoirs, die kleinsten krochen auf den Kellerluken herum, es war Alles so wohlig, so fröhlich, die Menschen konnten nirgends glücklicher sein. Ich sagte der kleinen Dame, ich würde heut’ noch nicht abreisen; ein vergnügtes Lächeln ging über ihr ganzes Gesicht. Das that mir wohl – ja, Julie, lache mich aus – und schon ein wenig beruhigt ging ich weiter. Ich war wieder ein Kind. Ich hätte mich fast zu den Frauen gesetzt, um mit ihnen zu plaudern. Ich fühlte mich unsäglich einsam und allein. Und indem ich so vorüberging – ich will mir nichts ersparen, Schwester, mögen mir auch vor Scham die Backen brennen – indem ich so weiter ging, stieg auf einmal wie eine Wasserblase in mir der Gedanke auf: Und wenn du hier bliebest? Wenn du ganz hier bliebest, und Anna würde dein Weib? – Die Worte klangen mir im Ohr, als hätte eine fremde Stimme sie gesprochen; ich setzte mich in meinen schnellsten Schritt – lache nur, lache nur – wie um ihnen zu entfliehen, aber sie zogen neben mir her, wie der Mond neben einem laufenden Kind, das ihm zuvorkommen will. Ich blieb endlich stehen, um etwas Athem zu schöpfen und meiner armen gehetzten Seele Ruhe zu predigen. Da stand ich gerade vor der Hausthür des „kleinen Heinrich“, und indem ich hinübersah, entdeckte ich, daß die kleine Gestalt im Zimmer, nahe am offenen Fenster, im hellen leinenen Kittel rastlos auf und nieder fuhr wie ein Stempel im Schwung. Mitten in meiner dumpfen Verstörtheit mußte ich auflachen. Der Gute turnte und führte offenbar die schöne Uebung aus, auf den Zehen stehend in die Kniee zu sinken und sich wieder emporzuschnellen. Ich eilte weiter, damit er mein Lachen nicht hörte. Willst du auch so endigen? dachte ich im Gehen; soll das dereinst für dich einsamen Junggesellen an goldenen Sommertagen auch dein Feierabend-Vergnügen sein, dreißig Mal hinter einander die Kniebeuge zu machen? Mir wurde so kindlich wehleidig zu Muth, wie wenn ich wirklich ein Zwillingsbruder des armen Heinrich wäre, wie wenn ich mein Heimathsstädtle nie verlassen, nie die Luft der alten Römer geschmeckt hätte. „Mach’ einen Gang um die Stadt,“ sagte ich zu mir, „das wird dich wieder aufrichten, du weinerlicher Säugling!“ Aber wie hatte ich mich geirrt! Unter den alten hohen Bäumen, an der verfallenen Mauer entlang, an den halbverschütteten Gräben, meinen alten Spielplätzen, erwachten alle die verspotteten Stadtgrabengefühle; tausend Erinnerungen streichelten mich, ich sah meine Eltern, meine Gespielen, meine kleine „Braut“, die zärtliche Anna, um mich her, mir ward so weich und so wehe. Die dämmernde Nacht legte sich brauner um die Mauern und Thürme, die hinabsinkende Mondsichel erschien mir wie die ausgeblichene Sonne jener Jugendzeit, die noch einmal die alten Wonneplätze zu vergolden suchte, und zwei kindliche, knabenhafte Thränen standen mir im Auge, die ich mit einem Gefühl zerdrückte, Schwester, als hätt’ ich nun Allem, was mir lieb war, die Augen für immer zugedrückt.

Endlich lenkte ich wieder dem Hause der Tante zu, es möchte daraus werden, was da wolle… O, diese Erregung, als ich wieder vor der schmächtigen hohen Thür stand und zu den schon erleuchteten Fenstern hinaufsah – ganz mit der beklemmten Brust, dem fassungslosen Gefühl, mit dem ich vor so vielen Jahren – –

Aber wie soll ich Dir das erzählen, liebste Schwester, was nun folgt? Gott, wie wird mir’s so schwer! Wenn ich an jenen Augenblick zurückdenke, da ich nun oben in die Thür trat, in meiner Knabentrunkenheit zu Allem entschlossen, – und Anna mir an Walter’s Arm entgegenkam! Nein, erlaß mir den Rest, thu mir die Liebe, Alles zu errathen.

(Am anderen Morgen.) Der Brief ist noch nicht fort; ich konnte gestern nicht weiter. Heute Abend reise ich ab. Mein Kopf ist elend, Alles wird mir schwer; aber es muß ja sein! – Ja, liebe Julie, Anna ist verlobt, und damit endet unsere Geschichte. In jener Stunde hatte er um sie angehalten. Bemerke die Ironie des Schicksals! – O, doch dem Himmel sei Dank, ich bin nun wieder frei, frei wie der Vogel, dem man unerwartet die Thür seines Käfigs geöffnet – hinaus, hinaus!

Wie er mir sie vorstellte als seine Braut, und was ich darauf gestammelt und wie ich wieder hinauskam, – das Alles weiß ich nicht mehr. Ein Traum ist klares Bewußtsein gegen so ein betäubtes Erwachen. Ich sehe nur ihr blasses, todtenblasses Gesicht und ihr Lächeln – Julie, was für ein Lächeln! – Lebe wohl.




Siebenter Brief.

Ich sitze in einem Wirthshauszimmer in der Residenz, liebe Julie, sitze, lauf’ umher, werfe mich auf’s Sopha, laufe wieder, trommele an den Fensterscheiben, singe und lache – und weiß nicht, werd’ ich diesen Brief zu Ende schreiben oder nicht? Juliette, ich habe die seltsamste Eisenbahnfahrt erlebt, die mein armes Gehirn sich hätte erträumen können!

Es war also heute Abend geworden und ich reiste ab, und zwar in der allerkläglichsten Verfassung. Mir schlotterte meine Seele; ich fühlte nun erst ganz, wie fest ich mich in einem gewissen Hause vor dem Mühlenthor eingewurzelt hatte. Italien – ich werde schon wieder lächerlich, Julie – Italien erschien mir in weiter Ferne wie ein Gerüst, auf dem man zu spät gekommene Liebhaber hinrichtet. Einsam und auf Seitenwegen, wie ein Verbrecher, schlich ich dem Bahnhof zu und hatte wirklich so ein Gefühl, wie wenn mein letztes Stündlein geschlagen und das Armesünderglöcklein schon zum zweiten Mal geläutet hätte. Eben wollte ich einsteigen, als ein Junge herantrat und mir einen Brief übergab. Ich sehe die Aufschrift an, glaube die Hand eines meiner Jugendfreunde, der Cigarrenhändler geworden, das heißt eine unbezahlte Rechnung, zu erkennen und stecke sie ruhig ein, und wir Beide – der Brief und ich – rollen davon. Ich drücke mich in eine Ecke und mache die Augen zu, um jeder Anrede auszuweichen, und versuche, nach alter Uebung, durch ein halbschlafendes Hinbrüten, meinen erbärmlichen Gefühlen wenigstens die scharfe Spitze abzubrechen. Aber diesmal gelang es schlecht. Unbeweglich stand es mir vor der Seele, daß ich so abschiedlos davongegangen, so besiegt, so in die Flucht geschlagen – und Sie und ihr trauriges, blasses Lächeln.

Julie, bei dieser Stelle bin ich wieder aufgesprungen und umhergerannt. O, warum schreib’ ich Dir? warum kann ich nicht plötzlich die Hand auf Deine Schulter legen und Dir sagen: es ist vorbei, ich werde sie glücklich sehen und glücklich sein? Zwinge Dich, liebe Seele, schreibe, schreibe! – Ja, ich schreibe. Ich hatte mehrere Stationen hinter mir, das Land und die Nacht flogen vorüber, eine gewisse dumpfe Traurigkeit begann mich wie eintöniger Ammengesang einzulullen. Mir kamen – wie es so geht – ein paar italienische Verse in’s Ohr, die ich einmal in Siena von einem blinden Sänger gehört und in mein Taschenbuch geschrieben hatte. Sie stimmten wunderbar zu meiner Verfassung, es war mir eine Wollust, sie mir vorzusagen, in ihrem schwermüthigen Wohllaut zu schwelgen, aber ich blieb stecken, mein Gedächtniß versagte. Ungeduldig griff ich endlich nach meinem Taschenbuch, um sie bei dem flackernden Licht unserer Wagenlampe nachzulesen, und zog dabei den ganz vergessenen Brief mit heraus, glaubte nun auf einmal eine andere Handschrift zu erkennen, öffnete ihn – und las.

„Mein Freund!“ (ich muß ihn Dir abschreiben, Wort für Wort.) „Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine Mittheilung zu machen, die vielleicht das Glück zweier Menschen bewirken kann, wenn ich auch mein eigenes zu Grabe trage. Als ich mich durch eine plötzlich groß gewordene Neigung hinreißen ließ, um unsere gemeinsame Freundin Anna zu werben, glaubte ich mich überzeugt zu haben, daß Sie an ihre Hand keinen Anspruch machten, glaubte auch annehmen zu dürfen, daß Anna’s Herz noch frei sei. Indessen schon Ihr Benehmen, mein Freund, als Sie uns verlobt fanden, Ihr schlecht verhehltes Entsetzen, Ihre hastige Flucht und Anna’s Ergriffenheit hatten mich mehr als nachdenklich gemacht. Heute Nachmittag aber hat mich ein Geständniß vollends aufgeklärt, das unsere kurze Verbindung nothwendig wieder aufhebt. In einer Stunde, die für mich vielleicht die schwerste unseres ganzen Lebens war, hat sie mir unter vielen Thränen erklärt, sie habe sich gelobt, nie mehr gegen irgend einen Menschen unehrlich zu sein, und am wenigsten gegen mich. Sie habe gestern in einer unglückseligen, bis zur Sinnlosigkeit verdüsterten Stimmung sich hinreißen lassen, meine Frage an ihr Herz zu bejahen; heut müsse sie mir sagen, daß sie unfähig sei, mir dieses Wort zu halten, daß sie es nur gegeben, um ihrem Gefühl für einen Andern zu entrinnen, daß sie mir ihre unselige Uebereilung abbitte, daß sie unglücklicher sei, als ich jemals werden könne. Mehr bedurfte es nicht, um mir meine Handlungsweise auf’s Klarste vorzuzeichnen und das herbeizuführen, was ich nun thue, indem ich Ihnen schreibe. Ich war nicht ohne Schuld, ich hätte es bemerken müssen, daß sie einen Andern liebte. Mein Schicksal hoffe ich mit der Zeit zu verwinden. Ihnen Glück zu wünschen vermag ich nicht; lassen Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_804.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)