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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

Geschick die Rollen, schrieben sie aus und machten sich an’s Auswendiglernen. Den Winter hindurch gab es häufige Proben, die von Mathy geleitet wurden und Manche, besonders aber die Darsteller der Hauptfiguren, ganz erheblich förderten, so daß sie später das höchste Lob ernteten. Daneben aber hatte dieser künstlerische Eifer noch anderen guten Erfolg. Mit frohem Erstaunen berichteten die Gemeinderäthe, daß im Orte, was seit Menschengedenken unerhört, nicht eine einzige Schlägerei vorkomme. Die Burschen saßen eben nicht in den Wirthshäusern, sondern zu Hause, um ihre Rollen einzuüben, oder sie waren bei der Einrichtung des Theaters beschäftigt.

Das letztere entstand in einem Flügel des Badehauses. Den Plan zur Bühne erdachte der Maler Disteli in Solothurn, der auch die Zeichnungen zu den Costümen lieferte. Das nöthige Holz wies der Gemeinderath im Walde an, wo es die Burschen fällten, um es zur Verarbeitung in Bretter nach der Sägemühle zu schleppen. Zu Dekorationen verhalf das Unglück eines Schauspieldirectors, der in Biel vor seinen Gläubigern mit Hinterlassung seiner Theatergeräthschaften flüchtig geworden. Die höhere Kunstfertigkeit erfordernden Costüme baute der Dorfschneider mit seinen Gesellen, die übrigen wurden von den Mädchen und Frauen Grenchens beschafft. Die Helme und Harnische, Schwerter, Spieße und Hellebarden lieferte der reiche Schatz des Solothurner Zeughauses, ja die Regierung lieh aus demselben sogar eine alte Feldschlange aus den Burgunderkriegen.

Im Februar war man so weit, daß man die Theaterzettel austragen konnte. Endlich kam der Tag der ersten der drei Aufführungen, zu denen man sich theils aus dem Wunsche, sich recht vielen Menschen zu zeigen, theils um die Einnahme zu mehren, entschlossen hatte. „Es war Sonntag, der 15. März 1840. Schon am Mittag war das Dorf in Bewegung. Um zwei Uhr ordneten sich die Schauspieler zum Zuge, welcher sich dann auf der alten Landstraße, die sich von Grenchen nach dem Bade, in dessen Gebäude die Aufführung stattfand, an der Höhe hinaufzieht, in Marsch setzte. Noch bedeckte Schnee den Boden, aber die Sonne schien hell. Voran ein Wagen mit einer Blechmusikbande aus Fulda, welche gerade die westliche Schweiz bereiste und jetzt einen feierlichen Marsch spielte. Dann die Ritter und Reisigen, Zwei und Zwei in glänzenden Burgunderharnischen, wohl an die vierzig Pferde. Dann wieder Wagen, geschmückt mit Tannenzweigen und Bändern, besetzt mit den Frauen und Jungfrauen aus Adel und Volk. Den Schluß des Zuges bildete das Fußvolk mit seiner Kanone. Es war kein schlechtes Bild aus alter Zeit. Die Waffen erglänzten im Sonnenschein, und die Gestalten hoben sich scharf von der blendenden Schneedecke.“

Die Aufführung begann gegen drei Uhr und währte etwa vier Stunden. Der Erfolg war ein außerordentlicher. Das gefüllte Haus spendete lauten Beifall. Der Dirigent, Lehrer Mathy, verlebte hinter den Coulissen ängstliche Augenblicke, wenn die kämpfenden Recken trotz aller Ermahnungen mit den langen, scharfen Schwertern aufeinander losschlugen, daß die Funken stoben, indeß lief Alles gut ab. Auf das Spiel folgte ein Abendessen der Acteurs und der Dorfhonoratioren, dann ein Ball. Noch um Mitternacht tanzten die Ritter in ihren schweren Rüstungen, die sie zu Mittag angelegt hatten – ein glänzender Beweis, daß dieses Geschlecht den Vätern, die bei Murten und Granson gefochten, an Körperkraft nicht nachstand.

Glücklich, wie diese erste Vorstellung des „Hans Waldmann“, verliefen auch die beiden folgenden. Das ganze Unternehmen aber hatte die Folge, daß der neue Schulmeister auch in die fröhlichen Erinnerungen des Schweizerdorfes hineinwuchs. Das Haus, in dem er wohnte, stand an der alten Landstraße, dahinter befand sich ein kleiner Obstgarten, hinter diesem eine Wiese, die Futter für zwei Ziegen lieferte. Zu ebener Erde war Mathy’s Wohnstube, im ersten Stock der Schulraum und ein Fremdenzimmer.

Der nähere Umgang des Lehrers mit den Männern des Dorfes kam auch der Schule zu Gute, für deren Bedürfnisse jetzt reichlicher gesorgt, wurde. Die Schüler wetteiferten in Aufmerksamkeiten gegen die Kinder ihres Lehrers. Sie bestellten seinen Garten, mähten ihm sein Heu und brachten es ein, von ihnen erhielt er die frühesten Erdbeeren und, wenn der Bach gefischt wurde, die schönsten Forellen. Ihr Eifer im Lernen wuchs fortwährend. „Die deutschen und französischen Aufsätze der Fähigeren,“ schreibt Mathy in den Erinnerungen, die hier ausgezogen sind, „durften sich sehen lassen. Sie lösten Gleichungen zweiten Grades mit Leichtigkeit, erklärten die Einrichtung der Uhr, der Mühle und der Dampfmaschine, wie die Gesetze, auf denen ihre Wirkung beruht, und lasen im Cornelius Nepos und Cäsar. Der Unterricht in der vaterländischen Geschichte wird in der Schweiz überall sorgfältig betrieben, doch nur in den glänzenderen Partien. Die Schlachten bei Morgarten, Sempach und Murten kennt jedes Kind. Aber die Unterthänigkeit ihrer Regenten, die französischen Pensionen und Gnadenketten werden gewöhnlich mit Stillschweigen Übergängen. Mir schien es zweckmäßig, das Licht nicht ohne den Schatten zu geben.“

Mathy hielt es für Pflicht, seinen begabteren Schülern weiter zu helfen. Schon vor dem Schlusse des zweijährigen Cursus seiner Anstalt zeigten sich zwei derselben reif für die Cantonsschule in Solothurn, die neben der gelehrten Abtheilung auch eine technische besaß. Da die jungen Leute unbemittelt waren, so mußte auch für ihren Unterhalt gesorgt werden. Mathy sprach deshalb mit dem Landammann und dem Rath für das Erziehungswesen und hatte die Freude, zu sehen, daß dieselben sich zur Unterstützung der Betreffenden bereit zeigten. Auch ein zweites und ein drittes Paar wurde auf diese Weise untergebracht und weiter gefördert. Für die später für die höhere Lehranstalt Gereiften mußte Mathy sich nach andern Mitteln umsehen. Er rieth ihnen, sich an die Capuziner in Solothurn zu wenden, welche durch ihre Vorschriften verbunden waren, armen Studirenden Wohnung und Kost zu geben. Sie folgten dem Rath und hatten es nicht zu bereuen. Aber Landammann Munzinger empfand das übel. Als der Lehrer ihn das nächste Mal in seinem Laden besuchte – der erste Beamte des Cantons, der spätere Bundespräsident der Schweiz, war nämlich Kaufmann –, fragte er verdrießlich, ob Mathy nicht wisse, daß den Knaben bei den Capuzinern Grundsätze eingeprägt würden, die nicht die seinigen seien. „Das weiß ich wohl,“ wurde ihm erwidert, „aber ich weiß noch mehr. Einmal, daß Schüler leben müssen, wenn sie lernen sollen, dann, daß Knaben, welche zwei Jahre bei mir gewesen, so verdorben sind, daß ihnen kein Capuziner mehr hilft.“ – „Dann bin ich auch zufrieden,“ sagte Munzinger.

Das Jahr 1840 brachte Deutschland und der Schweiz den Franzosenlärm. Das Wetter verzog sich, die Kriegswolken schwanden, aber sie hinterließen in Deutschland eine Bewegung in den Gemüthern, welche den nationalen Gedanken in den Vordergrund treten ließ und der eine Reihe politisch erregter Jahre folgte. Diese Zeit führte auch Mathy in das Vaterland zurück. Freunde riefen ihn; im Gefühl, nützen zu können, entsprach er dem Rufe. Aber „es kostete längeren innern Kampf“. Zu Weihnachten ging er. Die Trennung von den Schülern machte er kurz ab. Er schenkte jedem ein Buch, sagte ihnen Lebewohl und entfernte sich schnell.

„Es war ein kalter dunkler Wintermorgen,“ so erzählt Mathy das Ende dieser charakteristischen Episode seines Lebens, „als wir vom Wirthshause, in welchem wir die letzte Nacht zugebracht, abfuhren. Groß war unsere Ueberraschung, als wir in der frühen Stunde und der grimmigen Kälte die Bevölkerung, Männer, Weiber und Kinder, gedrängt vor dem Hause und längs der Landstraße stehen sahen. Sie wollten uns noch einmal die Hand drücken, sie riefen Lebewohl zu, und noch andere Rufe vernahm ich: ,Es ist gefehlt, daß Ihr von uns fortgeht.’ – ,Ihr müßt wiederkommen.’ – ,Ihr sollt das Bürgerrecht haben.’ Sie hoben die Kinder in die Höhe: ,seht ihn noch einmal, seht ihn noch einmal!’ Die Peitsche knallte und der Wagen fuhr davon.“

Mathy ist wiedergekommen zu seinen Grenchnern, mehr als ein Mal, auch von Leipzig aus. Das Solothurner Dorf gehörte zu seinen liebsten Zielpunkten in den Sommerferien, Ob man ihm noch das Bürgerrecht in der Gemeinde verliehen, weiß ich nicht. Er bedurfte seiner nicht, er hatte sich das Bürgerrecht in den Herzen erworben, hier wie allenthalben, wo er gelebt. „Es ist gefehlt, daß Ihr fortgeht,“ sagten ihm auch in Leipzig die trüben Blicke der Freunde in der Scheidestunde, als er in den Wagen gestiegen, der ihn der Heimath zuführen sollte. „Es ist gefehlt, daß Ihr fortgeht,“ werden alle Guten in Baden gegen das Schicksal geklagt haben, als er die letzte Reise antrat in das unbekannte Land, das sie die ewige Heimath nennen.



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