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verschiedene: Die Gartenlaube (1868)

der Ehe gestellt hat, feig davonzulaufen, kann darum nicht der hundertste so geartet sein, daß es hier eine Sünde wäre, zwei unglücklichen Menschen die Freiheit zu verweigern?“

„Die Freiheit!“ rief die Demoiselle Merling aus; „da hören Sie ihn! La liberté! Annette, da hören Sie den Jakobiner.“

„Es ist schade, daß Sie mich immer mißverstehen, liebe Tante. Ich rede nicht von der Freiheit, zu thun und zu lassen, was man will, sondern von der Befreiung aus einer unerträglichen und unmöglichen Lage.“

„Das wird ja wohl auf Eins herauskommen,“ rief die Alte zuversichtlich aus, doch ohne ihn anzusehen.

„Das wird es nicht,“ liebe Tante, „diesmal nicht. Lassen Sie uns nur einen Augenblick die Fälle unterscheiden, – warum wollten wir das nicht thun? Ein Mensch, wie dieser Herr Walter, der sich scheiden läßt, weil er das Leben mit seinem Weibe satt hat, weil er vielleicht, so alt wie er ist, noch nach einer Anderen, einer Jungen, ausschaut, kurz, weil es ihm so beliebt, ein solcher Mensch ist mir so verächtlich wie Ihnen. Dagegen, wenn ein guter, unglücklicher –“

„Ja, das ist er,“ unterbrach ihn die Demoiselle eifrig, „ein ganz meprisabler Mensch. Und das sind sie Alle! Und das geistliche Gericht, das so sans conscience diese gottlose Scheidung ausgesprochen hat –“

„Er hat sich einfach den Dispens gekauft,“ erwiderte Karl und zuckte die Achseln, „wie das in unserem lieben, gemüthlichen, jakobinerlosen Vaterland den Reichen und Vornehmen erlaubt ist! Aber Sie haben mich unterbrochen, liebe Tante. Ich denke an einen ganz anderen Fall, und es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie mich ausreden ließen.“

„Ich lasse ihn nicht ausreden!“ rief die alte Dame mit starker Entrüstung aus. „Hören Sie wohl, liebe Annette: ich lass’ ihn nicht ausreden! Reden Sie, reden Sie. Ueberschütten Sie uns mit Fällen, lieber Charles, überschütten Sie uns mit Ihren anderen Fällen.“

„Ich denke nur an einen,“ sagte er, ohne auf ihre Entrüstung zu achten, und seine Stimme gerieth in einige Bewegung. „An einen Fall, den ich mir nur habe erzählen lassen’, und doch muß ich heut’ den ganzen Tag daran denken. Es handelt sich um einen edlen, vortrefflichen Menschen, der in gutem Glauben, daß man ihn lieb hat, ein wackeres Mädchen heirathet und nun hinterdrein erfährt, daß sie zu der Ehe gezwungen worden, daß ihr Herz längst vergeben ist, daß sie und noch Einer zu ewigem Unglück verdammt sind. Was soll dieser Mensch nun thun? Soll er sie an sich anschmieden und auf dem Buchstaben seines Rechtes bestehen und ihr und sich die Ehe zur Hölle machen? Was würden Sie thun, Mademoiselle?“ indem er sich plötzlich an Annette wandte, die athemlos lauschend und ihre großen Augen auf ihn gerichtet dasaß, „oder vielmehr, was würden Sie fordern, daß dieser Unglückliche thun soll? Wenn nun Sie selbst dies Opfer wären, das man am Altar durch zwei Buchstaben auf immer gebunden hat – und wenn Sie in Ihrem Innersten fühlten, daß dieser Bund eine ewige Lüge bleiben würde –“

„Aber mon dieu!“ rief Demoiselle Merling in verächtlichem Ton dazwischen, „warum hat ihm die Närrin nicht vor der Hochzeit gesagt, daß sie einen Anderen liebte? Warum mußte sie damit warten, bis sich die Sache so hübsch tragisch gemacht hatte?“

„Weil – – “ begann Karl zu erwidern, brach aber ermüdet und ungeduldig ab und wandte sich wieder zu Annette. „Würden Sie auch in diesem Falle die Ehe für heilig und unauflöslich halten, liebe Mademoiselle?“ Würden Sie auch hier sagen, daß es besser ist, drei unglückliche Menschenherzen durch die Regel zu brechen, als durch die Ausnahme zu retten?“

„Ich kann darüber nicht urtheilen,“ entgegnete Annette nach einer Pause mit sehr leiser Stimme. „Ich – ich weiß es nicht,“ und dabei sah sie schüchtern zu der alten Dame hinüber.

Karl schüttelte lebhaft den Kopf. „Warum sollten Sie es nicht wissen? Ist denn die Frage so schwer?“

„Ich kann mich vielleicht in den Fall nicht ganz hineindenken,“ erwiderte sie verlegen. „Ich meine, daß der Mensch dazu da ist, Alles, was Gott ihm schicken will, mit Ergebung zu tragen.“

„Sie haben Recht, Mademoiselle,“ rief Wilhelm, der sehr aufgeregt zugehört hatte, feurig aus und trat vor sie hin. „Ja, dazu ist der Mensch da! Sie hat Recht, Karl, und Du hast Unrecht; aber Du hast Deine Sache gut geführt, wie ein Cicero. Sagen Sie selbst, Tante Merling.“

Die Alte sah verstimmt in die Ecke und schwieg. Karl trat an das Fenster und starrte eine Weile hinaus, ohne ein Wort zu erwidern. Endlich kam er zurück, und seine Augen ruhten mit sichtbarer Bewegung auf Annettens zarter Gestalt und weichen, hingebenden Zügen. „Sie mögen so denken,“ sagte er, „ich will Ihnen auch nicht widersprechen. Aber was heißt das: ,was Gott uns schickt’? Schickt er uns nicht auch so manche Dinge, damit wir sie überwinden, damit wir sie abschütteln sollen? damit wir unsere sittlichen und geistigen Kräfte an ihnen üben? Und wenn wir irgend eine Thorheit begangen haben, muß denn das immer Gottes Wille sein? Ein Jeder von uns erlebt doch nur sein eigenes Schicksal, und darum find’ ich es unrecht, wenn Aeltere den Jüngeren ihre eigenen Ansichten als maßgebend aufdrängen, wenn irgend eine zufällige Erfahrung, die sie gemacht haben, für vielleicht ganz andersgeartete Menschen gelten soll.“

„Sprechen Sie von mir, lieber Charles?“ sagte die Alte mit sehr böser Stimme und stand auf.

„Ich spreche in diesen: Augenblick von meinem Vater,“ erwiderte Karl, „von meinem sonst so weisen und einsichtigen Vater, der aber in diesem einen Punkte was die Ehe betrifft – sich eine sehr starre Meinung gebildet hatte und es für seine Pflicht hielt, sie auf uns zu vererben. Weil er einmal in seiner Familie einen sehr kränkenden und tragischen Fall erlebt – mit jener allzu langen Brautzeit, von der Sie ja wissen – hat er uns in seinem Testament zur ausdrücklichsten Pflicht gemacht, auf unsere etwaige Verlöbniß ohne Aufenthalt die Hochzeit folgen zu lassen. Ich finde das unrecht, und ich gestehe es offen. In diesen Dingen meine ich –“

„Sie haben sehr wenig Pietät, lieber Charles,“ fiel Demoiselle Merling ein.

„Darüber lassen Sie mich meiner eigenen Meinung sein!“ gab ihr Karl etwas hastig zurück. „Wo es sich um das allerpersönlichste Wohl und Wehe handelt –“

„Gegen einen solchen Vater!“ rief die alte Dame aus, „gegen einen so distinguirten Mann und einen so sehr liebevollen Vater!“

„Ich bin sein Sohn, Tante Merling,“ unterbrach Karl sie mit erregter Stimme. „Ich gestatte Ihnen allerlei Vorrechte, aber ich gebe Niemandem das Recht, mich über mein inneres Verhältniß zu meinem verstorbenen Vater zu belehren.“

Demoiselle Merling starrte ihn sprachlos an. Diese Ausdrucksweise bei einem so jungen Menschen brachte sie ganz außer Fassung.

„Um Gotteswillen, Ihr werdet Euch doch nicht erzürnen!“ rief plötzlich Wilhelm’s helle, gutmüthige Stimme dazwischen. „Tante Merling, lassen Sie doch; – laß doch, Karl! Mein ! Gott, es ist ja nicht der Mühe werth! – Nun ja, und wenn man sich ein Mädchen gewählt hat, das Einem ganz gefällt, warum soll man da auch nicht sogleich mit beiden Füßen in die Ehe hineinspringen?“

Die Alte nickte eifrig zustimmend, war aber noch zu aufgebracht, um selbst zu Worte zu kommen.

„Streiten wir nicht, lieber Wilhelm,“ erwiderte Karl mit etwas bitterem Lächeln. „Ich war so pietätlos, mich nicht sowohl gegen die Sache an sich, als gegen die tyrannische Liebe unseres Vaters aufzulehnen. Ich lehne mich gegen Alles auf, was über mein Wohl und Wehe entscheiden will, ohne meine eigene Gesinnung zu befragen. Das ist freilich nicht Sitte, ist nicht kindlich gedacht. Was aber das Hineinspringen in die Ehe betrifft, lieber Wilhelm, wer bist Du? Doch wohl auch ein sehr gebrechlicher, irrthumsfähiger Mensch? Und wenn Dir plötzlich irgend ein Gelüste durch den Kopf schießt – und Dir in: Augenblick Alles herrlich, Alles in Ordnung scheint – – Doch was reden wir davon!“ setzte er abbrechend hinzu und that einen Schritt auf die Seite. „Wir reden in’s Blaue hinein. Jeder denkt, wie er fühlt. Wozu auch das ganze Gespräch! Man versteht sich nicht, und man ereifert sich, ohne zu wissen, warum man sich ereifert.“

Er sagte das mit einem scharfen Blick auf die alte Dame, die leidenschaftlich in die Luft hinaussah, und wandte sich dann unwillkürlich zu Annette zurück. Das Mädchen, mit leicht gerötheten Wangen und brennenden Lippen, sah in reizender Verlegenheit zu ihm hinauf und dann zur Tante hinüber und schien ihn mit ihren sanften Augen und Mäßigung, um Freundlichkeit zu bitten. Dieser Anblick wirkte ganz plötzlich auf ihn. Er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1868). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1868, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1868)_483.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)